11 – Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Am stärksten beeindruckte ihn in Heidelberg seine Besteigung des Turmes der Heiliggeist-Kirche am späten Nachmittag. Nicht etwa weil ihm der Aufstieg zu anstrengend wäre – er war ja in einem Spezialtraining in den letzten Tagen –, sondern weil er nicht schwindelfrei war. Von Stufe zu Stufe beklommeneren Herzens, seine Beine wurden flauer, seine Hände schweißiger. Das letzte Erlebnis, dass er etwas schwindelerregend Höheres erklommen hatte, war zeitlich wohl in seiner Kindheit anzusiedeln – so etwa im Alter von zehn Jahren. Ein Aussichtsturm war das gewesen. Wo der gestanden hatte, erinnerte er nicht mehr. Nur noch, dass er damals beschlossen hatte, nie wieder auf etwas zu klettern, was höher war als der Apfelbaum im Garten seiner Eltern. Der höchste zu erkletternde Ast befand sich in etwa zehn Metern Höhe über dem Erdboden. Das konnte er gut aushalten. Im Herbst wurde er durch die reifen Äpfel belohnt, im Rest des Jahres war er durch die Apfelernte des letzten Herbstes trainiert für diese Höhen.
Aber alles kein Vergleich zum heutigen Projekt.
Heute packte ihn nur deshalb der Wagemut, weil er – noch unten auf dem Marktplatz stehend, in dessen Mitte die Kirche stand – sah, dass sich die Aussichtsterrasse auf halber Höhe des Turmes befand. Die machte einen recht breiten Eindruck. Er meinte, sicher zu sein, dass er, wenn er sich in Nähe des Turmes aufhielte – sozusagen mit dem Rücken zur Wand –, jeweils genug Terrassenfläche vor sich hätte bis zu der Mauer, die die Aussichtsfläche umgab. So würde ihm vielleicht nicht schwindelig werden. An die Mauer müsste er ja nicht herantreten, um dann in den Abgrund zu schauen.
Vielleicht spielte auch die letzte Nacht eine Rolle? Mann Benno? Oder einfach die Besonderheit dieses Tages, seines Geburtstages? Wobei der ja in besonderer Weise eingeleitet worden war. Vielleicht doch die letzte Nacht? Oder um es kurz zu machen: Dass er sich jetzt so männlich gab, lag dann wohl doch an einer Frau. Aber war es ein Zeichen von Männlichkeit, einen Turm zu erklimmen?
Während er sich Stufe um Stufe emporarbeitete – so musste man das wirklich nennen –, verfluchte er sich und seine Entscheidung, traute sich andererseits aber nicht, einfach umzukehren. Dann müsste er Erklärungen abgeben. Und genau das wollte er nicht. Einige aus ihrer Gruppe waren gar nicht erst in den Turm gestiegen. Das ließ sich, bevor man gestartet hatte, auch relativ problemlos bewältigen. Einige, und die gaben sich auf diese Weise zu erkennen, waren nicht schwindelfrei. Und da das mehrere – Mädchen und Jungen – waren, war das in Ordnung. Hochzusteigen allerdings und dann umzukehren war eine andere Nummer, fand er. Also müsste er da jetzt wohl oder übel durch. Beziehungsweise hoch.
Als er durch die schwere Stahltür auf die Plattform trat, traf ihn unvorbereitet der Wind. Unten war es windstill gewesen. Wieder sommerlich, sonnig, blauer Himmel, keine einzige Wolke. Schon wieder, so musste man sagen. Bisher ausnahmslos. Hier oben ging ein Wind. Ein warmer Wind allerdings.
Der Blick entschädigte dann aber für die Mühen des Aufstiegs. Und für die Furcht. Wenn er sich an die Turmmauer hielt, würde er das aushalten können. Da hatte er wohl richtig kalkuliert. Er konzentrierte sich nicht auf seine Leute, die – natürlich? – alle gleich zur Mauer gingen, sich womöglich noch über sie beugten, um in die Tiefe zu schauen. „Schwindelgefühle? Ich? Im Leben nicht!“ Oder so ähnlich. Wahrscheinlich schwindelten sie. Er ließ es langsam angehen, zumal ihm noch immer beklommen zumute war. Suutje un sinnig un sacht, sagte seine Oma immer. Daran wollte er sich heute halten. War wahrscheinlich überhaupt kein schlechter Wahlspruch, den die alte Dame da in vielen Lebenssituationen parat hatte.
Der Blick neckarabwärts in Richtung der Rheinebene war grandios. Weite aus der Enge des Neckartales heraus. Nach dem furchtvollen Aufstieg konnte sein Blick ruhen. Er bemühte sich, den Festpunkt im Horizont zu suchen, nicht zu sehr die unter ihm liegenden Häuser Heidelbergs zu fixieren, sondern erst einmal zur Ruhe zu kommen.
Als sein Herzschlag sich wieder etwas normalisierte, traute er sich, auch die nähere Umgebung zu betrachten. Er war, als er aus der Tür herausgekommen war, gleich einige Schritte zur Seite getreten, noch immer nah an der Turmmauer, so dass er den Nachkommenden nicht im Wege stand.
Heidelberg im spätnachmittäglichen Gegenlicht, ein sehr krasser Gegensatz von Licht – zum Beispiel auf den Dächern der Häuser – und Schatten – zum Beispiel in den Straßenschluchten. Vorwiegend Rottöne, die je nach Schatteneinfluss ins Dunkelrot bis Schwarzrot wechselten. Eingerahmt dieses Bild durch die verschiedensten Grünabstufungen der seinen Blick einrahmenden Wälder auf den Berghängen, die den Neckar begleiteten.
Er tastete sich an der Turmmauer entlang um die Ecke in Richtung Neckar und Alte Brücke. Und lehnte sich wieder an den Turm. Auch hier das tiefe Rot der Dächer. Viele tönerne Schindeln. Auch anthrazit glänzender Schiefer. Auf dem gegenüberliegenden Ufer wieder Grün und Rot. Überwiegend aber Grün. Dazwischen das schwarze Spiegelband des Neckar. Auf dem sich ein Frachtschiff gemächlich stromaufwärts voranarbeitete. Motorengeräusche waren hier oben nicht zu hören. Obwohl der Schiffsdiesel bestimmt hart arbeitete – der Rauch aus dem Schornstein verriet die Anstrengung –, schien die Arbeit dort unten lautlos geleistet zu werden. Auch den Autoverkehr in den Straßenschluchten bekam man hier nicht mit. Alle Geräusche wurden durch den Wind übertönt. Der wiederum verfremdet war durch eine für einen norddeutschen Küstenbewohner untypisch anmutende Sanftheit und Wärme. Die Alte Brücke – auch sie hatte durch die tiefstehende Sonne einen Stich ins Rötliche – sah scharf aus, mit ihren beiden klotzigen Wehrtürmen die Stadt verteidigend.
Er wurde mutiger und entfernte sich etwas vom sicheren Turm und ging weiter nach rechts. Als er neckaraufwärts und schlosswärts schauen konnte, lehnte er sich wieder an die Mauer. Sein Puls hatte sich weiter beruhigt. Die Genussphase konnte beginnen.
Der Blick, den er jetzt auf Heidelberg hatte, war wahrscheinlich der typische Postkartenblick. Das rotbraune Heidelberger Schloss inmitten des Grüns der umgebenden Wälder, deutlich erkennbar der Fluss, die überwiegend roten Dächer, das Ganze gesehen aus einer schwerelosen Vogelperspektive, und – alles bisher Wahrgenommene steigernd – die tiefstehende Abendsonne stellte das Licht. Also alle Farben ein paar Grad intensiver. Das Schloss mit seinen vielen leeren Fensterhöhlen, am Berg klebend, über der Stadt hängend, fast bedrohlich und doch Sinnbild der Romantik. So hatten sie das im Deutschunterricht auf der Grundlage eines sehr, sehr kleinen Fotos in einem Schulbuch einmal bezeichnet. Die Wirklichkeit war überzeugender. Machte aber deutlich, dass sie – begrifflich – schon auf dem richtigen Weg waren.
Der rotbraune Stein inmitten des tiefen Grüns der Umgebung, dazu die offensichtliche Unbewohntheit wenigstens der meisten Teile des Gebäudes, aber zugleich das Wissen darum, dass das ganze Gebäude einst bewohnt war, Leben beherbergt hatte, davon legte die Ruine jetzt ja noch Zeugnis ab, „gegenwärtige Vergangenheit“ hatte ihr Lehrer das genannt, dann – auch auf dieser Seite des Turmes wieder – die Stille, die durch die sachten Windgeräusche erst so richtig deutlich wurde, die Abgehobenheit von der Betriebsamkeit der Wirklichkeit dort unten, dann der Gedanke, dass er heute Geburtstag hatte und dass ihn heute Morgen alle überrascht hatten, und dann noch die Erinnerung an die letzte Nacht.
Er war froh, dass ihn im Moment niemand ansprach.
Ein Fotoapparat wäre jetzt schön. Vielleicht würde er Mikke fragen. Der hatte einen Apparat dabei und fotografierte auch ganz eifrig. Zum späteren Sich-Hineinversenken in diese Stimmung wäre ein Bild als Hilfsmittel nicht schlecht. Er würde Mikke fragen.
Was jetzt noch an Pulsbeschleunigung in ihm war, war bedingt durch den Blick, der sich ihm bot. Den Aufstieg und die Furcht hatte er vergessen. Köstlich war’s hier oben.
Auswendig lernen mussten sie kurz vor den Sommerferien Novalis’
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/Sind Schlüssel aller Kreaturen“
.
Novalis, Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren … in: Novalis, Heinrich von Ofterdingen, 1800/1802
Das er natürlich prompt nicht mehr auswendig konnte. Aber dem Sinne nach ging es da doch um eine, wenn er das recht erinnerte,
fünffache konditionale Steigerung
– heißer Begriff, aber so hatte ihr Deutschlehrer das genannt –, die sich löste in dem Verspaar – immerhin das bekam er, neben den ersten beiden Versen, noch hin – „Dann fliegt vor einem geheimen Wort/Das ganze verkehrte Wesen fort.“ Das ganze verkehrte Wesen war wohl da unten irgendwo, bei den Zahlen und Figuren, dem sachlichen Alltagsgetriebe. Demgegenüber standen vielleicht Märchen oder Gedichte oder ganz allgemein das Fühlen. Im Großen und Ganzen musste das der Inhalt dieses doch eigentlich recht kurzen Gedichtes sein. Peinlich, dass er das nach gut einem Monat schon nicht mehr zusammenbrachte. Wenn John hier oben wäre, hätte er den fragen können. Der hatte ein tolles Gedächtnis. Allein aufgrund des jahrelangen intensiven Trainings beim Lernen der Songtexte. Aber John ging an Krücken, hatte sich den Turm nicht zugemutet und war somit nicht greifbar. Machte aber auch nichts. Den Grundton des Novalis-Textes hatte er wohl hinbekommen. Und das reichte ihm als Versuch des Ausdrucks der hier oben herrschenden Stimmung. Ob die anderen das auch so fühlten wie er? Diese Abgehobenheit, dieses Schweben über der Welt dort unten? Aber eigentlich hatte er gar keine Lust, jetzt mit irgendjemandem ins Gespräch zu kommen. Und sie ließen ihn auch noch in Ruhe, die anderen. Einige waren noch immer wagemutig, einige alberten herum, einige verschwanden schon wieder in Richtung Tür und Abstieg.
War er der einzige, der das hier genoss? So einfach in aller Ruhe? Schien fast so.
Gedankenverloren an der Mauer lehnend und über die Stadt schauend, zündete er sich eine Zigarette an. Erst nachdem er einige Züge inhaliert hatte, wurde ihm bewusst, dass das hier ja eine Kirche war. Da war Rauchen bestimmt nicht gerne gesehen. Um genau zu sein: Verboten war es sicherlich. Andererseits: Wein durfte man zu bestimmten Anlässen trinken in der Kirche. Und dazu passte immer gut eine Zigarette. Na gut, kein ernstgemeinter Einwand. War das jetzt gotteslästerlich? Aber hier befand er sich ja außerhalb der Kirche. Er sah sich um. Außer ihnen war kein Erwachsener auf der Plattform, vor dem er sich hätte in Acht nehmen müssen. Und seine Leute beachteten ihn gar nicht. Also beschloss er keck, die Zigarette zu Ende zu rauchen. Und in einem unbeobachteten Moment in hohem Bogen über die Mauer zu werfen. Die konnte wohl keinen Schaden anrichten unten. Trotzdem war ihm nicht ganz wohl bei der ganzen Aktion. Aber mitnehmen nach unten mochte er den Zigarettenstummel auch nicht. Seine Hände bräuchte er beim Treppensteigen. Da würde er bestimmt wieder unsicher sein. Und den Stummel zwischen die Lippen zu kleben – sicherlich die lässigste Art mit der größten Publikumswirksamkeit, wenn er so unten aus der Kirchentür vor seine Leute träte –, traute er sich nicht.


Der Abstieg war nicht so schlimm wie der Aufstieg. Vielleicht war durch diese Aktion der Bann gebrochen in Sachen Schwindel?


Als er aus der Kirche auf den Marktplatz trat, umfing ihn wieder die sommerliche Wärme. Abgestrahlt von den umliegenden Häusern und dem Asphalt der Straße. Rund um die Heiliggeist-Kirche klebten wie Schwalbennester kleine Kramläden an den Mauern von Turm und Kirchenschiff. Überwiegend mit Andenken-Tand, aber darunter auch einige Zeitschriften- und Buchläden. Antiquarische Bücher. Das könnte ihn wohl interessieren, aber er musste sehen, dass er seiner Gruppe hinterherkam. Die hatten wohl nicht durchgezählt und vermissten ihn noch gar nicht. Sie bewegten sich vom Marktplatz der Hauptstraße folgend in Richtung Karls-Platz. Dort wollten sie in die Studentenkneipe „Zum Roten Ochsen“.
Heidelberg war schön. Der Ausflug auf den Heiliggeist-Turm gerade eben ein echtes Glanzlicht. In mehrerlei Beziehung: romantisches Nachempfinden von Novalis, die Ruhe, der warme Wind, na ja, und das Rauchen dort oben auch irgendwie, so musste er sich eingestehen. Am Vormittag waren sie auf dem anderen Neckarufer den Philosophenweg entlanggewandert, mit einigen Rastpausen zwischendurch, und hatten von dort den Blick auf das „Kirchenensemble, die Altstadt und das Schloss“, so Buddy Jensen. Auch das war beeindruckend. Er müsste irgendwann noch einmal nach Heidelberg fahren, um das alles in aller Ruhe zu genießen. Ohne Gruppenzwänge. Vielleicht sollte er hier studieren? Das wäre ja eine scharfe Perspektive für die vor ihm liegenden zwei Jahre bis zum Abitur. Hier gab es bestimmt auch Rock-Bands, die Gitarristen gebrauchen konnten. Und studieren konnte man hier bestimmt alles, was das Herz begehrte. Wobei er noch gar nicht so genau wusste, was er denn studieren wollte.
Dass
er studieren wollte, wusste er allerdings genau. Und wenn es allein wegen des geheimnisvoll-frischen Windes war, den sein Bruder aus dem Studium mit nach Walldorf brachte auf seinen Wochenendbesuchen. Irgendetwas mit Literatur wäre nicht schlecht. Ob man da Gedichte auswendig lernen musste?


Seine Leute waren schon alle im „Ochsen“ verschwunden. Die hatten ihn tatsächlich nicht mehr auf der Rechnung. Sollte er sich jetzt Heidelberg auf eigene Faust und vor allem in eigener Geschwindigkeit ansehen? Nee, mal lieber keinen Krach mit Anders und Jensen provozieren.
Als er gerade die Tür des roten Gebäudes – das passte ja schon einmal – öffnen wollte, kam ihm ein schlaksiger Zweimeter-Typ mit langen Haaren und unglaublichem Schnauzer in die Quere. Der war ja noch größer als er. Eine seltene Erfahrung. Ihre Hände trafen sich auf dem Türknauf. Der Schnauzer lachte. Dadurch wurden seine Lippen sichtbar.
„Nach dir, Genosse. Ich hab’s nicht eilig.“
Und er hielt ihm die Tür auf.
„Was studierst du hier? Rote Literatur? Ist zur Zeit sehr angesagt.“
Er lachte noch immer und folgte ihm dann in die Kneipe. Na, der war ja unkompliziert. Was sollte er jetzt nur sagen? Sofort als seine Gruppe suchender Minderjähriger mochte er sich nicht zu erkennen geben.
„Nee, nicht Student. Bin Rockmusiker auf der Durchreise, weißte.“
Wenn der ihn duzte, durfte er das wohl auch. Ob er wirklich wie ein Student aussah? So alt? Vielleicht wegen seines Bartes?
„Oho, scharf. Rockmusiker finde ich ja nun original scharf, mein Lieber. Das musst du mir erzählen.“ Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. „Schauen wir gemeinsam in ein Bier?“
Sein Schnauzer, der an den Lippenwinkeln vorbei in Richtung Kinn gezogen war, gab wieder seine Zähne frei. Der hatte ein sehr sympathisches Lachen, der Schnauzer-Schlaks.
„Nehmen wir gleich den Tisch hier vorne. Ich bestelle uns zwei Bier, einverstanden?“
Bier durften sie für Anders und Jensen trinken, wenn sie es nicht übertrieben. Aber es war eine Gratwanderung, wenn er sich auf das Angebot einließe und sich hier zum gemeinsamen Bier niederließ. Und dann irgendwann – das war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass das passieren würde – von Anders oder Jensen oder anderen aus seiner Gruppe angesprochen werden würde. Und spätestens dann würde sein Doppelspiel auffliegen, das sich im Augenblick so gut anfühlte. Wenn der Typ nicht ein ganz begriffsstutziger Mensch wäre, müsste er spätestens dann alles merken.
„Ja, bestell’ mir eins mit.“
Ihn ritt der Teufel.
„Okay, du Rockmusiker. Ich such’ mal die Bedienung. Komme gleich wieder. Setz’ dich man schon hin.“
Als der Schnauzer, der sich hier offensichtlich auskannte – der studierte hier bestimmt –, in einem Nachbarraum verschwunden war, signalisierte er seinen Leuten, die er schon in einem der anderen Zimmer entdeckt hatte, dass er „da vorne jemanden getroffen“ habe, mit dem er sich einen Augenblick unterhalten werde. Weder Anders noch Jensen hatten etwas dagegen, fragten auch nicht nach, und seine Leute bekamen das vielleicht gar nicht richtig mit.
Er ging wieder zu dem Tisch im vorderen Raum.
Die Kneipe sah wirklich urig aus. Alle Räume mit sehr viel dunklem Holz, vielen Bildern und Schildern und Bierseideln an den Wänden, alten gusseisernen Öfen, betagtem, handfestem Gestühl, tiefen Decken, auch die aus Holz, engen Türen, kleinen Fenstern, was der Dunkelheit weiteren Vorschub leistete, Tischen mit sehr derben, dicken, vom Bierglasgeschiebe zerkratzten Holzplanken, die wahrscheinlich schon unzählige Male abgeschliffen worden waren. Im Ochsen war erkennbar viel studiert worden. Den gab’s wohl schon über 250 Jahre. Wenn jemand all das, was hier an dummem Zeugs und weisen Gedanken schwadroniert worden war, aufgezeichnet hätte, ob man dann den Schlüssel aller Kreaturen hätte? Der Ochsen hatte bestimmt viel erlebt. Wenn der erzählen könnte? Aber der war sicher im Laufe der Jahrzehnte selbst weise geworden und sah sich das ganze Getriebe in ihm nur distanziert an. So wie ihn jetzt gerade. Ihn, der eine heiße Nacht hinter sich hatte, einen Kirchturm bestiegen und sich dort ein klein wenig unbotmäßig verhalten hatte, hier in ein Gespräch mit einem Wildfremden verwickelt war, im Moment gerade gar nicht so recht zu irgendwem gehörte, der zudem noch Geburtstag hatte. Eigentlich hätte er sich doch bemühen können, heute aus einer Telefonzelle seine Eltern anzurufen. Ob er das noch machen sollte? Obwohl ihm die Distanz von zu Hause ganz offensichtlich gut tat. Und da hatte er noch eine weitere Woche vor sich. Fast eine ganze Woche. Nee, er würde nicht anrufen.
Der Schnauzer-Schlaks kam mit zwei Bieren, setzte sich, fingerte sich aus seiner Jeansjacke eine Zigarettentabaktasche, in der sich auch die Blättchen befanden, rollte sich in traumwandlerischer Geschwindigkeit eine Zigarette und suchte in seiner Hosentasche nach Feuer. Wohl vergeblich.
„Hast du Feuer, Rockmusiker? Und hast du einen Namen? Rockmusiker ist original scharf, aber doch recht anonym.“
Er holte sein Feuerzeug hervor, gab seinem Gegenüber Feuer, schlug sich eine Reval aus seiner Schachtel und gab sich selbst Feuer.
„Benjamin heiße ich. Oder kurz Ben. Und du hast Recht: Rockmusiker klingt sehr anonym.“
Der Schlaks zeigte wieder Lippen und Zähne.
„Außerdem – aber das hast du bestimmt sowieso gemerkt – bin ich weder Student noch Rockmusiker auf der Durchreise. Sondern mit einer Jugendgruppe unterwegs.“
Er sah noch immer Lippen und Zähne.
„Aber Rockmusiker stimmt schon. Machst du auch Musik?“
Wenn er hier schon den Ehrlichen gab – was ihn, wie er feststellte, erleichterte –, konnte er ja ruhig offensiv werden.
Der Schlaks nickte.
„Stimmt. Der Bart und deine Körpergröße lassen auf den ersten Blick auf Student oder so schließen. Aber wenn man genauer hinsieht und dann noch in Rechnung stellt, dass ich – so nehme ich wenigstens an – deine Gruppe vor dir habe hier hineinmarschieren sehen, dann kann man sich schon eins und zwanzig – oder wie viele seid ihr? – zusammenreimen. Aber du hast gut reagiert an der Tür gerade eben. Muss ich schon sagen. Weiß nicht, ob ich das in deinem Alter so hingekriegt hätte.“
Er nahm sein Glas und prostete ihm zu.
„Arndt. Ohne Kurzform. Ist eh schon kurz.“
Er wischte sich den Schaum aus dem Bart und nahm einen Zug.
„Und wie alt bist du, Ben? Achtzehn schätze ich so?“
Sollte er das jetzt so stehen lassen?
„Nee, erst siebzehn.“ Von seinem heutigen Geburtstag musste er wohl nichts erzählen. „Und was für Musik machst du so? Auch aktiv? In einer Band?“
Der Schlaks nahm noch einen Zug und formte eine Reihe annähernd perfekter Rauchringe. Den letzten schoss er durch den vorletzten. Lange Übung vermutlich. Und Studium. Müsste er auch einmal probieren. Sah nicht schlecht aus.
„Ja und nein. Das ist ein bisschen kompliziert. Also gelernt habe ich einmal Gitarre. So in meiner Kind- und Jugendzeit. Und damals, das war so Anfang der Sechziger, auch in einer Combo gespielt. Elvis war unser King. Schöner Rock ’n’ Roll damals. Dann kam der Bund dazwischen. Meine Kollegen und mich hat es in sehr unterschiedliche Himmelsrichtungen verschlagen. Die Gitarre habe ich erst einmal an den Nagel gehängt.“
Nach einem weiteren kräftigen Schluck Bier gab er der Bedienung ein Zeichen. Er schien hier bekannt zu sein, oder seine Zeichensprache war international. Er hatte einfach nur seine Hand gehoben. Er war gespannt, was die Bedienung bringen würde.
„Nach dem Bund stand dann die Frage des Studienortes an. Die Frage des Ortes stand für mich vor der Frage, welches Fach. Ich komme aus Hamburg. Norddeutschland kannte ich, Süddeutschland nicht. Heidelberg oder Freiburg war die Alternative, vor die ich mich gestellt habe. Gestartet habe ich in Freiburg – original empfehlenswert, Ben, kann ich nur sagen – und dann bin ich für die zweite Halbzeit – ich studiere Soziologie und ein bisschen Philosophie – nach Heidelberg gegangen. Noch originaler und noch empfehlenswerter. Tolle Stadt, tolle Uni, tolle Leute kennen gelernt.“
Die Bedienung kam mit zwei Bieren, so dass er sich beeilte, sein Glas zu leeren.
„Danke, Anna, danke. Eins für unseren jungen Rockmusiker hier.“
Er lachte wieder, wie wenn es auf dieser Welt keine Probleme gäbe.
Dann schaute er ganz ernst, prostete ihm zu und begann mit dem Drehen der nächsten Zigarette, die er sich mit dem auf dem Tisch liegenden Feuerzeug anzündete.
Er schien nachzudenken.
„Genau. Rock-Band war das Thema. Also die Gitarre hatte ich aus Hamburg – über Freiburg – mit dabei. Aber nun kommt’s: Klavier und Orgel sind jetzt Thema. Du musst mal in die Pop-Musik genau ’reinhören – aber wem sag’ ich das? –, die beiden Instrumente sind häufig vertreten. Na gut, seit einem Jahr bin ich Mitglied einer Combo, die schwarze Musik – Detroit, Memphis, New York und so – zum Besten gibt. Funk Brothers and Sister nennen wir uns. Sister deshalb, weil wir eine Sängerin haben. Zugegeben, der Name ist ein bisschen abgekupfert bei der Studio-Band der Stars aus Motown. Aber ich denke, die kriegen das nicht mit.“
Er popelte an seiner Zigarette und stopfte den Tabak etwas fester in das Blättchen. Das Problem bei Filterlosen. Die Gefahr, dass man Tabak in den Mund bekam, bestand. Selbst bei Profi-Aktiv-Rauchern.
„Also im Wesentlichen haben wir tatsächlich Soul im Programm. Marvin Gaye, Wilson Pickett, Four Tops …“
Seinen Schnauzer kraulte er mit Daumen und Zeigefinger.
„Na, wen noch? Wenn man so aufzählen soll, fallen einem die Kandidaten prompt nicht ein. Das ist wie beim Gedicht-Aufsagen-Müssen: Eben konnte ich das doch noch. Kennst du das auch?“
Er massierte jetzt seine Schläfen. Das schien zu wirken.
„Supremes, Temptations, Smokey Robinson, Otis Redding, Sam and Dave, Drifters, Aretha Franklin, Percy Sledge, Ray Charles, Booker T. Jones. Na gut, jetzt reicht’s erst einmal. Da wir die Sister im Ensemble haben, können wir auch die Supremes und die Franklin bringen. Wie du siehst: ’n büschen Motown, ’n büschen Stax, ’n büschen Atlantic.“
Nach einem Schluck Bier.
„Jackie Wilson werden wir uns vornehmen. Hat gerade einen tollen neuen Song herausgebracht. Sehr funky, guter Beat, grooviger Bass. Kennst du den schon?“
Er beließ es bei einem weltmännischen Nicken. Wer war Jackie Wilson?
„Großes Glück haben wir mit unserer Besetzung: Sängerin, Saxophon, Bass, Drums, Gitarre und Orgel. Mit der Besetzung kannst du eigentlich alles spielen. Aber eben auch ganz hervorragend Soul. Und sehr original kommt das dann auch noch dadurch, dass wir zur Hälfte schon fast original aussehen. Die ersten drei Genannten schwarz, die letzten drei weiß. Dolle Mischung.“
Er trommelte mit seinen Fingern auf die Tischplatte.
„Scharfe Sache. Musik allgemein sowieso. Aber unsere Combo im Besonderen, das kann ich dir sagen.“
Nach einem Zug.
„Kommen immer viele GI’s zu unseren Sessions. Ich finde, das spricht für sich. Saxophon und Bass sind übrigens Ex-GI’s, die dann nach ihrer Zeit hier hängen geblieben sind. Zu unserem Glück.“
Er schaute aus dem Fenster auf den Karls-Platz und überlegte vielleicht, ob er nun alles Wissenswerte zu seinen Funk Brothers and Sister und seiner Musik gesagt hatte.
„AFN hat uns übrigens auch schon einmal interviewt.“
Jetzt kraulte er wieder kurz seinen Schnauzer und wandte sich ihm zu.
„Seid ihr noch länger hier? Dann könntest du uns mal hören.“
„Nee, leider nicht, wir sind in Waldtal untergebracht, und Heidelberg sehen wir bestimmt während dieses Aufenthaltes nicht noch einmal. Aber ich hatte auch schon überlegt, ob Heidelberg nicht eine interessante Uni-Stadt für mich ist. Aber dann müsste ich mich schon sehr beeilen, wenn ich dich dann noch erleben wollte.“
Nach einem weiteren Schluck zündete er sich auch eine Zigarette an. Das Bier merkte er schon irgendwie. Also müsste er etwas vorsichtiger sein.
„So, Rockmusiker, nun erzähl’ du mal ein bisschen. Was für Musik macht ihr so? Hast du in deiner Gruppe eine Freundin?“
Dabei lachte er ihn so sympathisch an, dass er ganz spontan nickte. Einem Fremden ließ sich offensichtlich manches leichter erzählen. Aber trotzdem: Heute ging alles sehr, sehr schnell. War sonst so gar nicht seine Art.
„Ja, irgendwie sogar gleich mehrere.“
Auf die erste, weniger verfängliche Frage ging er gar nicht erst ein. War ja schon mal interessant.
„Das ist alles ganz schön kompliziert, Arndt. Ich habe mich verliebt, und einige unserer Mädchen haben ihre Augen auf mich geworfen. Oder wie sagt man?“
Er überlegte. War er jetzt etwas zu vertrauensselig? Aber der Arndt kannte ihn ja nicht, den würde er höchstwahrscheinlich nie wiedersehen. Warum also sollte er nicht erzählen?
„Aber vielleicht doch erst einmal Frage eins: Wir sind noch nicht so lange im Geschäft. Weiß Gott keine Profis. Und spielen zur Zeit mehr so den Mainstream. Schwergewicht vielleicht Stones. Und einige Instrumentals von den Shadows und den Spotnicks. Na ja, und natürlich auch so Hitparaden-Kram. Was aktuell ist und was wir spielen können.“
Er nahm noch einen großen Schluck Bier.
„Die Sache mit den Frauen ist da viel komplizierter.“ Als was? Als das Gitarrespielen etwa? Er musste aufpassen. Dass ihm die Dinge nicht aus dem Ruder liefen. Schließlich sollte er noch halbwegs gerade zum Bus gehen können. Mindestens. Auch wenn heute sein Geburtstag war.
„Da hast du Recht, Rockmusiker. Frauen sind ein großes Rätsel.“
Jetzt sah er ihn ganz ernst an. Oder verlud er ihn jetzt?
„Und das Paradies, Ben.“
Wieder das ansteckend breite Lachen. Aber ganz ernst war er dabei.
„Ja, genau. Heute Nacht hat mich eine besucht.“ Mannomannomann! Was fiel ihm da ein? „Und die blieb etwas länger, wenn du weißt, was ich meine?“ Er sah ihn an, Arndt nickte. Wieder ganz ernst. „Und irgendwie wusste ich gleichzeitig, dass es die nicht sein wird.“ Er zündete sich noch eine Zigarette an, bemerkte dann erst, dass im Aschenbecher noch der Rest der letzten vor sich hin kokelte. Ein Alarmzeichen. „Und sie war in der letzten Woche noch nicht einmal die erste. Hoffentlich schätzt du mich jetzt nicht völlig falsch ein. Und trotzdem habe ich mein Auge auf eine Dritte geworfen. Kannst du das verstehen?“
Der Schnauzer hob sich, das Gesicht verzog sich wieder zu seinem sympathischen Lachen. Der Typ hatte was. Keine Frage. Der konnte erzählen und – noch wichtiger – der konnte zuhören.
„Klar, Rockmusiker. Kleiner Tipp: Sprich sie an, die du da im Auge hast. Das differenzierte verbale Ausdrucksvermögen unterscheidet die Spezies Homo sapiens sapiens von den meisten, von den allermeisten Lebewesen auf dieser Welt. Dann noch hier und da mal ein kleines bisschen zwinkern, ab und zu eine Geste. Du hast doch Augen im Kopf, und du kannst doch mal ein Zeichen geben. Eigentlich kann da doch fast nichts mehr schief gehen, Ben. Da findest du doch locker das Zauberwort.“
Er trank in einem großen Schluck sein Glas leer, stellte es ab, drückte seine Zigarette aus und lehnte sich zurück.
„Sag’s ihr! Gib ihr ein Zeichen!“ Und etwas leiser. „Achtung, da kommt jetzt jemand. Der könnte aus deiner Gruppe sein.“
Er drehte sich um und sah, dass der Sven Philipp sich wohl zu ihnen gesellen wollte.
„Ihr seid Brüder im Geiste. Mindestens. Zweimal prachtvoll Flower Power. Stellst du mich vor, Ben?“
„Na klar, Arndt. Das ist der Sergeant Pepper.“
An Sven Philipp gerichtet: „Sergeant, das ist der Philosoph und Soul-Musiker Arndt. Gerade kennen gelernt.“
Dann wieder an den Schnauzer-Schlaks: „Genau genommen, Arndt, ist das Sven Philipp, aber seit heute Sergeant Pepper. Einfach umgetauft, verstehst du? Nach diesem original-berühmten Album dieser orignal-berühmten Band aus dem original-britischen Liverpool.“
Sven Philipp setzte sich auf einen der freien Plätze am Tisch und flüsterte ihm zu: „Sag’ mal, Benno, habt ihr was genommen?“
Das hatte der ihn doch schon einmal gefragt. Nach dem Unterholz-Ereignis. Da war er ja wie gedopt durch die Welt gelaufen. Wenn er jetzt schon wieder einen solchen Eindruck machte – wobei es hier kein Unterholz gab –, dann musste er wirklich aufpassen. Er vertrug heute nichts. Die Nacht steckte ihm wohl noch in den Knochen. Und der Heiliggeist-Turm vielleicht.
„Hi, Sergeant, keine besonderen Vorkommnisse. Hast hier einen netten Kumpel. Willst du auch ein Bier?“
Und bevor er überhaupt reagieren konnte, gab der Schlaks schon wieder sein Zeichen, das Anna wohl sofort registrierte. Das würde ab jetzt kompliziert werden. Ob er den Sergeant einweihen sollte, dass der im weiteren Verlauf des Abends ein Auge auf ihn haben sollte?
„Du, Benno“, wieder im Flüsterton, „nach diesem Bier müsste Schluss sein. Anders und Jensen meinten, um halb neun sei Abflug.“
Und jetzt an den Schlaks gerichtet.
„Du studierst hier? Und machst auch Musik?“
Beide Male nickte Arndt.
„Ja, zweimal Volltreffer, Sergeant. Und wie gefällt dir Heidelberg? Und wie gefallen dir eure Mädchen?“
„Benno, so weit seid ihr schon? Tolles Tempo. Da komme ich ja kaum hinterher. Frage eins: Toll. Das war die einfachere der beiden Fragen.“
Jetzt wieder an ihn gerichtet, aber nur so halblaut, gespielt geflüstert, in der Absicht, dass ihr Gegenüber verstand, was er sagte: „Hast du ehrlich geantwortet, Benno. So richtig mit allen Verwicklungen?“ Und jetzt laut, wie wenn er nur für Arndt sprach: „Bei dem Benno ist das nämlich so ein klein wenig kompliziert, musst du wissen. Die Frauen sind hinter ihm her. Na ja, halt Rockmusiker. Da gehört sich das wohl so. Und der Benno kann sich noch nicht so richtig entscheiden.“ Jetzt wieder wie im Vertrauen nur zu ihm: „Hab’ ich jetzt was Falsches gesagt, Benno?“
„Nee, nee, Sergeant. Stimmt auffallend. Hab’ mich gerade ähnlich geäußert.“
Die Biere kamen. Er schob sein leeres Glas in Richtung Anna und bekam ein frisches Bier.
„Anna, machst du bitte die Rechnung? Die beiden Herren haben gleich noch einen wichtigen Termin. Und ich auch. Combo-Auftritt im „Keller“. Du merkst, Anna, reine Terminhatz heute unter Studentens.“
Anna grinste. Sah sympathisch aus. Vielleicht etwas füllig. Nee, das klang negativ. Sympathisch füllig. Die Rundungen saßen dort, wo sie hingehörten. Und sympathisch sowieso. Und füllig war eigentlich wirklich nicht schlecht. Füllig hatte was. War knuddelig.
Heidelberg war schön. Selbstbestimmt zu leben war schön. Wahrscheinlich war das Letztere der Knackpunkt. Dann wäre auch das Leben in einer nicht so tollen Stadt, wie Heidelberg es war, schön.
Dieses Bier müsste er sich genau einteilen. Aber wie teilte man ein Bier ein in einer knappen halben Stunde? Alle zwei Minuten einen Schluck? Alle vier Minuten zwei? Alle sechs Minuten drei? Und den Rest dann auf einmal? Wenn das man gut ging!
„Also, Arndt, Frage zwei: Ja, es gibt da eine. So eine ganz Interessante. Aber mehr sag’ ich im Moment mal nicht. Ich muss mir selbst erst einmal klar werden, ob ich möchte, dass das jemand weiß. Aber immerhin, Arndt, sie weiß es schon. Okay?“
Der Schlaks lachte wieder, wirklich gewinnend. Nicht nur sein Lachen. Netter Mensch. Nahm dann sein frisches Bier, setzte es an, trank es in einem Zug aus – wie wenn es auf dem Weg vom Mund in den Magen nur eine ungestörte direkte Verbindung gäbe. Jahrelanges Training höchstwahrscheinlich. Na ja, Student.
„So, ihr beiden Hippies. Ich muss jetzt. Fühlt euch eingeladen. Bekomme heute Abend Gage. Kann mir das also leisten.“
Er stand auf und reichte ihnen beiden die Hand.
„Freut mich, eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Wirklich. Denn bis denn denn. Und Ciao.“
Kramte sein Portemonnaie hervor, ging zum Tresen, bezahlte bei Anna, kam wieder an ihrem Tisch vorbei, zwinkerte ihnen zu und verließ den Raum.
Erst als sie durch das Fenster sahen, wie der Schlaks schon über den Karls-Platz ging, fiel ihm ein „Und vielen Dank auch“ zu sagen.
„Heißer Vogel, Sergeant. Kannst du den Rest meines Bieres trinken? Und auf mich ein bisschen aufpassen? Muss ja nicht jeder mitkriegen. Ich glaube, ich habe dem Arndt eben meine halbe Lebensgeschichte erzählt. Vor allem die intimeren Details. Ich weiß auch nicht, Sergeant. Ist das der Alkohol? Zwei Halbe auf nüchternen Magen sind mir heute zu viel. Oder ist das die Wirkung der Romantik? Oder beides in Kombination?“
„Lass man gut sein. Das Bier übernehme ich. Brenn’ dir eine Aktive an. Und entspann’ dich. Ein bisschen Zeit hast du noch. Bis zum Bus ist es nicht weit. Und auf der Rückfahrt machst du ein kleines Nickerchen. Du wirst sehen, in Waldtal kannst du heute Abend dann schon wieder Bäume ausreißen. Oder ein kleines Solo hinlegen. Oder einen Blick auf die holde Weiblichkeit riskieren.“
Er klopfte ihm auf die Schulter.
„Wer ist da eigentlich zur Zeit deine Favoritin, Rockmusiker?“