12 – Zweisam

„Also, Benno, du folgst dem Weg oberhalb des Krebsbaches aus dem Ort heraus nach Norden. Dann kommt da ja ’ne scharfe Rechtskurve. Du aber folgst dem Weg. Wenn du die erste Weggabelung siehst, hast du auch rechterhand den Krebsbach. Der bleibt rechts im Tal liegen. Kann ja auch gar nicht anders, der Arme. Immer nur bergab.“ John seufzte mitfühlend. „Na gut, ich schweife gerade ab, ’tschuldigung. Also weiter im Text: An der ersten Weggabelung hältst du dich rechts. So wie am Dienstag vor einer Woche, als ihr auf dieser Heu-Lichtung geblieben seid. Also Marie-Anne, Manuela und du. Ja?“
John grinste fröhlich, aber er durfte das.
„Alles klar, John. Und wie weiter?“
„Dann marschierst du so bummelige tausend Meter geradeaus.“
Jetzt legte er den Zeigefinger auf seine Stirn zwischen die Augen und rieb ihn dort bedächtig hin und her. Konzentrationsübung, wie es schien.
„Sag’ mal, mit wem willst du dahin? Du gehst doch nicht alleine? Die Julia kann’s nicht sein. Die geht mit unserem Sergeant, soviel man hört und sieht. Weiß der Sergeant ...? Nee, der weiß nichts.“ Jetzt lachte er. „Nichts weiß der Sergeant. Der weiß nichts. Würd’ ich drauf wetten.“
Er kratzte sich noch einmal an der Stirn, nahm dann seine Hand wieder herunter.
„Also weiter im Text: Links liegt dann ja nach diesen tausend Metern unsere allseits bekannte Heu-Lichtung. Die lässt du ... äh ... die lasst ihr liegen – nämlich links – und geht weiter geradeaus.“
John machte eine kleine Pause und konzentrierte sich. Auf sein topographisches Gedächtnis?
„Sag’ mal, die Manuela kann es doch eigentlich auch nicht sein? Oder habe ich da etwas verpasst? Kaum fehlt man mal einen halben Tag, gehen hier die Ereignisse bemerkenswert geschwind weiter. Aber mit der Manuela scheinst du etwas zu haben ...?“, er überlegte, „... gehabt zu haben? Oder doch noch immer? Mensch, Benno, was würde deine Oma dazu sagen?“
Dann dachte er wieder zielgerichtet nach. So schien es. Seine Oma würde höchstwahrscheinlich wieder – wie so häufig, wenn er sich vorstellte, sie beurteile sein aktuelles Leben oder ein aktuelles Ereignis – „Wat’n Tostand, Benjamin!“ sagen. Das wusste John auch. Der kannte nicht nur Geschichten über seine Oma, der hatte sie sogar schon höchstpersönlich kennen gelernt.
„Wo war ich stehen geblieben? Richtig: Die Lichtung hattet ihr links liegen lassen. Gut. Und dann also weiter geradeaus, bis ihr an die scharfe Rechtskurve kommt. Hier führt der Weg ja um die Quelle des Krebsbaches herum. In der Kurve werdet ihr – bei genauem Hinsehen, aber bitte wirklich genau hinschauen! – einen kleinen Trampelpfad entdecken, der links im Unterholz verschwindet. Einen sehr, sehr kleinen Trampelpfad, der wirklich bemerkenswert klein ist!“
Jetzt zündete er sich eine Zigarette an. Die Ernte, die John ihm dann anbot, lehnte er dankend ab und steckte sich seine Reval an.
„Bente und Hannah sollen geknutscht haben beim Gratulieren? Birgit soll gekuschelt haben?“
Er schaute fragend. Sah aber, dass er wohl falsch lag, und konzentrierte sich wieder.
„Jetzt seid ihr schon fast am Ziel. Nach bummeligen hundert Metern auf dem Trampelpfad – der immer enger wird, das darf euch nicht stören – seht ihr unter Gebüsch und Zweigen versteckt das bemerkenswerte Objekt eurer Begierde. Eures bislang noch unbekannten Ziels. Aber ich glaube, ich verspreche nicht zu viel.“ Er dachte kurz nach. „Nee, da bin ich mir sicher.“
Nach einem Zug aschte er ab und nahm noch einen Zug. Spannungssteigerung also.
„Technisch versiert bist du. Das kann ich inzwischen beurteilen.“
Noch ein Zug.
„So dass ich jetzt eigentlich nur noch anfügen möchte: Holladrioh! Oder wie sagen wir Jägersleut’?“
John lehnte sich zurück. Sie saßen auf den etwas bequemeren Stühlen im Gemeinschaftsraum. In ihrem Zimmer die Stühle waren eine Zumutung. Die zwangen einem eine Sitzhaltung auf, die ihn ganz heftig an Kirchenbänke erinnerte. War hier ja aber auch eine kirchliche Organisation, die diesem Haus vorstand.
„Ich komm’ da ja leider nicht mehr hin. Mit Krücken viel zu beschwerlich. Wenigstens nicht in der normalerweise zur Verfügung stehenden Freizeit. Für Hin- und Rückweg müsst ihr Gesunden mindestens eine Dreiviertelstunde einplanen. Besser eine Stunde. Unsere Normalfreizeit beträgt ja zwei Stunden. Da hättet ihr dann noch eine Stunde Zeit für euch. Heute haben wir ja vermutlich so etwa drei Stunden Zeit. Also ein perfekter Tag für dieses Ziel.“
Er nahm noch einen Zug und drückte die Zigarette dann aus.
„Viel Spaß, Benno. Der Platz ist genial. Das wirst du mir bestätigen. Carola und ich müssen uns nun etwas Anderes überlegen“, er schaute aus dem Fenster, „vielleicht, wenn ihr tagsüber als Gruppe irgendwo auf Tournee seid, dass wir das dann mal in unserer Bude probieren? Das wär’ doch was!“ Kurze Pause, John schaute ihn an. „Habt ihr daran schon mal gedacht?“
Zur Entlastung legte er sein gebrochenes Bein auf einen Stuhl.
„Habt ihr daran schon mal gedacht?“
Er sah ihm einen Augenblick in die Augen, lachte und meinte: „Sonntagnacht? Oder lieg’ ich falsch?“
„Da könntest du einen Treffer gelandet haben. Sonntagnacht war ein guter Termin. Ein heißer. Aber jetzt – da liegst du auch irgendwie richtig – dreht es sich um eine andere Person. Und da die von ihrem Glück noch gar nichts weiß, ich aber der festen Überzeugung bin, dass das klappen könnte, sage ich im Augenblick mal nichts mehr. Sorry. Ich hoffe, du verstehst?“
„Okay, Benno. Okay. Aber am Sonntag war das Manuela? Richtig?“
Er nickte und drückte seine Zigarette auch aus. Hoffentlich würde er sich im Eifer des Gefechts – was für’n doofer Ausdruck! – an alle Details erinnern. Schließlich würde er bestimmt aufgeregt sein. Er hatte den Eindruck, dass er schon im Vorfeld – schon wieder militärisch! – aufgeregter war als bei der Julia und der Manuela.
 
Nach dem gemeinsamen Kaffee hatten sie bis zum Abendbrot Freizeit. Darauf hatte er gebaut. Er hatte es so eingerichtet, dass sie während der Kaffeezeit nebeneinander saßen. So wie er sein Stirnband seit Montag trug, so hatte auch sie ihr klatschmohnrotes Leihband seit Montag immer in Betrieb. Sah wirklich scharf aus. Der Kontrast war ideal. Ihr schwarzes Haar, das fast schon einen Stich ins Blauviolette hatte, und der wirklich sehr rote Seidenschal: Das passte einfach perfekt zusammen. Siggi sah toll aus. Knackig. Nee, doofes Wort. Sexuell-aufreizend. Vielleicht. Vielleicht schön? Einfach wunderschön! Dass ihm das nicht gleich aufgefallen war. Aber zu Beginn, bei ihrer Ankunft hier in Waldtal, da hatte er nur Augen für Manuela gehabt. Was letztendlich auch kein Fehler gewesen war. Die war schließlich heiß gewesen, die Frau. War sie wohl noch. Musste er sich jetzt eigentlich Gedanken machen? Zwei Frauen in gut einer Woche, und er hatte gerade Nummer drei im Visier? Bekloppte militärische Formulierung. Also: Er stellte gerade fest – und das nicht erst seit heute –, dass er die Siggi ganz reizend fand. So war’s! Ihren flüchtigen Geburtstagsglückwunschkuss hatte er noch am Abend gespürt. Den spürte er noch immer! War das dann mehr als reizend? Aber reizend und wunderschön fand er sie. Oder wunderschön und reizend. Ob er ihr das sagen könnte? Oder sagen wollte? Das war eine andere Nummer als bei den anderen beiden. Bei Julia und Manuela hatte er sich nie so richtig herausgefordert gefühlt, über sein Innenleben zu berichten. Dass er sie schön und scharf fand, hatte er wohl gesagt, wenn er sich recht erinnerte. Aber war Siggi nur schön und scharf? Also schön und scharf war sie. Keine Frage. Was hatte er den anderen beiden noch gesagt? Besonders Manuela am Sonntag? Da waren vielleicht noch mehr Worte gefallen. Geredet hatten sie ja auch mal. So zwischendurch, wenn denn Pause angesagt war. Pausen hatten sich ja zwangsläufig eingestellt. Sozusagen naturbedingt. Dolle Woche, die er da erlebt hatte. Mannomannomann, war das alles kompliziert!
„Sag’ mal, Siggi, wollen wir gleich einen kleinen Spaziergang machen?“
Das war noch etwas hölzern. Bevor sie ja oder nein sagen konnte: „Nur wir beide.“
Das war noch nicht viel besser.
„Ich nehme meine Gitarre mit, wir stecken uns jeder einige Gänseblümchen ins Haar und schauen mal, was da so kommt?“
Das war ja schon eleganter.
„Das Wetter ist ja wieder toll. Ich spiele dir einige Stücke aus unserem Repertoire vor. Und du sagst dann, wie du die findest?“
Na, nun nicht den Faden verlieren.
„Und vielleicht fällt auch noch diese oder jene Bemerkung über Dithmarschen ab. Den Landstrich kennen wir beide nun ja zusammengenommen schon über dreißig Jahre. Da müsste doch Gesprächsstoff vorhanden sein?“
Das war ja nun wieder eher platt. Wie das Land, von dem er gerade gesprochen hatte.
„Oder vielleicht wollen wir einfach nur ein bisschen entspannen? Was hältst du davon, Siggi?“
Sie nickte nur, schaute aber erfreut. Sehr erfreut? Sehr erfreut. Aber auch abwartend. Musste er jetzt noch einen Zahn zulegen?
„Gut, treffen wir uns draußen? Muss ja nicht jeder mitkriegen, dass wir unsere Freizeit gemeinsam verbringen wollen?“
Blöder Scheiß-Satz! Dafür konnte er sich ja direkt in den Arsch beißen. Wieso sollte das niemand mitbekommen, dass er mit der Siggi unterwegs wollte?
„Quatsch. Wir gehen gleich gemeinsam von hier los. Ich hol’ dann nur noch meine Gitarre?“
Sie nickte. Sein Vorschlag schien okay zu sein.
Das war ja schon mal toll. War ja nicht unbedingt vorhersehbar gewesen, dass Siggi zustimmte. Erste Hürde genommen. Rein sportlich betrachtet.
„Ich geh’ dann nach oben, nehme meine Gitarre und hole dich dann hier ab?“
Hatte er das nicht schon gerade eben gesagt? Sie nickte wieder nur.
Was hatte sie nur für lange, schöne Wimpern? Und unglaublich große, schwarze Augen. Unergründlich. Aber eben konnte er darin deutlich lesen, dass sie mit seinen Vorschlägen einverstanden war. Da hätte es ihres Kopfnickens gar nicht mehr bedurft. Sein Herz hüpfte, sein Magen sandte wildes Entzücken aus. Dieses besondere Geflecht, dessen Name ihm wieder nicht einfiel, sollte dafür wohl zuständig sein. Der Körper war schon eine dolle Einrichtung. Na ja, und der ganze nicht unwesentliche Rest erst. Mannomannomann!
Er stand auf und ging auf sein Zimmer. Ein Spritzer Rasierwasser – Undjekolundje für den Mann sozusagen – und etwas Deo. Und eine neue Packung Reval. Feuerzeug? Die Gitarre nicht vergessen. Dann klopfte er auf seine linke Hosentasche. Auch dort alles dabei?
Als er wieder in den Gemeinschaftsraum kam, waren viele schon aufgebrochen. Inzwischen war es unverkennbar, dass darunter auch viele Pärchen waren. Pärchen bildeten die Mehrheit.
Er überlegte, ob er gleich – sozusagen wie selbstverständlich – ihre Hand nehmen sollte. Das traute er sich aber nicht. Und sie machte keine Anstalten, sondern stand auf und sie gingen gemeinsam nach draußen auf die Terrasse.
Dort winkten sie Sven Philipp und Julia zu, die dort anscheinend beratschlagten, was sie nun mit dieser kostbaren gemeinsamen Zeit anfangen sollten.
Zum Gänseblümchenpflücken kam es dann nicht mehr. Er war viel zu aufgeregt. Und sie dachte wohl auch nicht mehr an seinen Vorschlag von eben.
So marschierten sie los.
Das war ja schon mal einfacher gegangen, als er befürchtet hatte. Bis hierher. Immerhin hatte Siggi nicht nein gesagt und sie waren allein losgekommen. Ohne noch irgendjemanden im Schlepptau zu haben. Vielleicht sogar noch eine ganze Horde. „Oh, toll! Der Benno will im Wald Musik machen! Wir kommen mit! Habt ihr doch nichts dagegen? Spielst du auch Stücke von Sergeant Pepper?“ Hätte ja sehr leicht alles schief gehen können. Also: Aufatmen. So weit hatte er das schon mal geschafft. Er wollte schließlich kein öffentliches Konzert geben im Wald. Womöglich mit Julia und Manuela im Background-Chor. Und Marie-Anne als Nummern-Girl. Das wäre ja der Hit. In den Charts ganz oben. Sogar bei AFN.
„Benno, was denkst du gerade? Das habe ich dich schon einmal gefragt. Weißt du? Als wir aus der Kirche kamen? Am ersten Sonntag? Ich habe häufig den Eindruck, du bist gar nicht ganz von dieser Welt. Nee, doofe Formulierung. Ich habe den Eindruck, du bist häufig abwesend. So in Gedanken?“
„Ja, stimmt.“
Jetzt musste er vorsichtig sein!
„Ich mache mir halt so meine Gedanken. Über das, was gerade läuft. Oder über Gott und die Welt. Passiert dir das nicht auch mal?“
„Doch, klar. Gedanken macht sich doch wahrscheinlich jeder. Mal mehr, mal weniger. Aber bei dir dauert das häufig so lange.“ Und vorsichtig angefügt: „Kommt mir so vor.“
Sie beobachtete ihn offensichtlich schon länger. Und offensichtlich auch sehr genau. War ja schon mal nicht schlecht. So als Grundvoraussetzung für seine Pläne. Aber aufpassen musste er.
„Ja, stimmt, Siggi. Kann ich wieder nur sagen: Stimmt, Siggi. Aber ich finde, das ist auch alles sehr spannend, was da so mit einem passiert. Findest du nicht auch? Also gerade habe ich – pardon, dass ich auf etwas Schulisches komme jetzt – also vor den Ferien haben wir uns in Deutsch mit romantischen Gedichten beschäftigt. Und – ob du’s glaubst oder nicht – gerade bevor du mich gefragt hast, habe ich an eines von diesen Gedichten gedacht. Ein ganz kurzes. Und das geht so: ‚Schläft ein Lied in allen Dingen/Die da träumen fort und fort/Und die Welt hebt an zu singen/Triffst du nur das
Zauberwort
.‘ “
Joseph von Eichendorff, Wünschelrute, 1835
Er machte eine Pause. Obwohl das ja nicht ganz stimmte, was er da sagte, so stimmte es doch auch wiederum ganz genau. Seine Gedanken eben wurden schon – wenigstens zu einem guten Teil – durch dieses Gedicht wiedergegeben. Und außerdem fand er das Gedicht so schön, und dass er hier mit der Siggi unterwegs war und dass das Wetter so schön war und dass der Wald so toll roch und dass die Vögel alle zwitscherten, was ihre Kehlen hergaben, und dass sie Zeit hatten und dass sein Bauch wieder wildes Entzücken produzierte und und und ... sollte er das jetzt alles erzählen? Na ja, wäre ja vielleicht gar nicht verkehrt.
„Ich finde, dass das ein ganz wunderschönes Gedicht ist. Da hat jemand mit ganz wenigen Worten den ganzen Zauber dieser Welt eingefangen. Und ich finde, man muss eigentlich gar nicht viel sagen. So als Erklärung oder so. Der Satz spricht für sich. Das war halt ein echter Dichter – der mir natürlich prompt entfallen ist, wie der Titel auch, meistens haben solche Dinger einen Titel? –, der konnte – das ist jetzt nicht von mir – also der Mensch konnte Sprache so verdichten, dass die Wörter weniger werden, der Sinn aber mehr wird.“
Nach kurzer Pause, in der er versuchte zu erinnern, wie die Formulierung gewesen war: „Oder so ähnlich.“
Jetzt aber mal Ruhe. Bevor er sich verausgabte. Hier war schließlich keine Deutschstunde.
„Ja, Benno, das stimmt. Das hast du schön gesagt. Das ist ja ein toller Satz. Wenn man den ernst nimmt, bedeutete das ja, dass die Welt, alle Dinge dieser Welt belebt sind? Nicht nur die Menschen? Oder verstehe ich das falsch?“
„Nee, seh’ ich genauso. Ob die Dinge belebt sind, weiß ich ja auch nicht. Aber die Vorstellung, sie
könnten
belebt sein, bedeutete doch, dass da mehr ist in der Welt als nur Menschen und unbelebte Dinge, Materie. Und das bedeutete dann doch, dass viel mehr Geheimnis in der Welt steckt, als man so normalerweise sieht und zugibt.“
Nun aber mal einen Gang ’runterschalten.
„Ja, stimmt. Die Welt wäre weniger platt. So wie Dithmarschen ja sowieso schon mal ist. Und weil Dithmarschen platt ist, hat man natürlich Zeit und Gelegenheit, über vieles nachzudenken. Was eben nicht platt ist.“
Sie sah ihn an.
„Streiche mal meine letzten zwei, drei Sätze. Aber alles andere bleibt so stehen. Die Welt ist nicht platt, das sagt dein Satz. Und wir haben die Möglichkeit, dieses Geheimnis, wenn schon nicht zu lösen, so doch zu erkennen.“
Sie blieb stehen.
„Oder erzähle ich da gerade Quatsch? Verstehe ich das alles falsch? Vielleicht bin ich auch nur verwirrt?“
Er blieb auch stehen.
„Nee, glaub’ ich nicht. Dass die Welt ein Geheimnis ist, das wir vielleicht nie lösen, ist die eine Seite der Medaille. Aber dass wir überhaupt erkennen können,
dass
sie ein Geheimnis ist, das ist doch schon mal etwas. Sehe ich genau so wie du. Deinem Satz muss man nichts hinzufügen. Der steht.“
Sie gingen weiter. Im Wald war wieder fix was los. Alle Sinne hatten Arbeit. Da wurde jetzt wohl nur noch das Zauberwort erwartet. Aber wie lautete das?
Die erste Kreuzung hatten sie automatisch gemeistert. Die war schon ein ganzes Stück hinter ihnen. Er hatte darauf geachtet, dass sie sich rechts gehalten hatten, so wie Johns Anweisung lautete. Jetzt müssten aber noch ein paar hundert Meter vor ihnen liegen bis zu der Kurve, in der er aufpassen sollte.
Die Gitarre, die er geschultert hatte, nahm er vor die Brust.
„Bevor wir zu philosophisch werden, könnte ich doch mal ein bisschen spielen?“
Er sah sie an. Sie nickte.
„Ich muss nur aufpassen, dass ich erstens eine sehr begrenzte Stimme habe, und dass ich zweitens ein bisschen darauf achte, was ich spiele. Das heißt, ob das, was ich da spiele, zu unserem Spazierschritt passt. Damit ich nicht aus dem Takt komme.“
Na, das war ja ein Geständnis.
„Du merkst, ich bin noch meilenweit entfernt von einem perfekten Gitarrero, der nicht nur zu einem Solo singen kann, sondern der auch noch in einem ganz anderen Takt spielen kann, als gerade durch sein Schritttempo vorgegeben ist. Schlagzeuger wäre also absolut nicht mein Job: Mit allen vier Extremitäten unterschiedliche Dinge zu veranstalten. Und dazu vielleicht sogar noch zu singen, so wie Dave Clark zum Beispiel. Also musst du deine Erwartungen ein klein wenig zurückschrauben.“
War das jetzt zu viel Eingeständnis eigenen Unvermögens? Aber sie durfte natürlich keine übersteigerten Erwartungen haben. Das konnte dann nur ein Flop werden. Er bekam das allein – ohne Johns Unterstützung – niemals hin. Der fehlte als Sänger und Rhythmusgitarre. Bei vielen ihrer Stücke konnte er nur den Lead-Gitarren-Part. Und das klang, wenn sie denn keine Unterstützung hatte, die Lead-Gitarre, bisweilen etwas einsam. Er kannte das ja von seinen Übungseinheiten zu Hause.
„Ich starte mal mit einem Stück, bei dem wir weitergehen können. Titel kennen wir nicht. Auch nicht den Namen der Combo, die das mal verbrochen hat. Ich habe das vor ein, zwei Jahren im Radio gehört und mich gleich hingesetzt und versucht, das nachzuspielen. Wir nennen es schlicht Arpeggio.“
„Benno, ich habe keine übersteigerten Erwartungen. Oder wie du das nennst. Spiel’ mal los. Wenn’s denn was zum Mitsingen gibt, was ich kenne, singe ich mit.“
Arpeggio war recht einfach. So wie sich ja die Pop-Musik insgesamt dadurch auszeichnete, dass die Dinge sehr begrenzt waren und sich schnell wiederholten. Was der Möglichkeit des Nachspielens entgegen kam. Und natürlich der Möglichkeit des Sich-zur-Musik-Bewegens.
Auch gehenderweise gelang ihm Arpeggio gut. Als nächstes – schon etwas anspruchsvoller – wählte er
Sandstorm
von Johnny and The Hurricanes. Intro für die sonntagnächtliche Hitparade auf BFBS.
Das klappte auch. Aber jetzt müsste etwas zum Mitsingen kommen. Good Times? Nee, das ging nicht. Die Good Times waren besetzt. So ging’s nicht. Das wäre ja schon eine kleine Sauerei. Aber
Bring It On Home To Me
könnte er spielen. Das konnte er in ihrer Band mit Rhythmusgitarre begleiten. Und mitsingen durfte er dann auch, wenn sie das Stück spielten. Also konnte er den Text. Konzentrieren müsste er sich trotzdem.
„Im folgenden Stück geht der Refrain so:
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
,
Eric Burdon and The Animals, s.o.: Eric meint, kurz gefasst, sie solle ihn lieben. So leicht ist das mitunter. Wobei sich die Praxis im Moment noch nicht ganz so einfach gestaltet. Da gibt’s noch einige Hürden.
und dann gibt’s da noch dieses oder jenes
XXXXXXX
,
Eric Burdon and The Animals, s.o.: Eric bekräftigt seinen Wunsch.
mitunter auch
XXXXXXXXXX
,
Eric Burdon and The Animals, s.o.: Eine weitere Bekräftigung. Damit es wohl auch wirklich klappt.
mitunter auch
XXXXXXXXXXXXXXXX
,
Eric Burdon and The Animals, s.o.: Eric lässt nicht locker. Ist das schon Vorfreude?
auch mal
XXXXXXXXXXX
.
Eric Burdon and The Animals, s.o.: Eine kleine, aber liebevolle Ansprache der Angebeteten.
Na ja, du wirst schon merken. So richtig schwer ist das nicht, dabei mitzusingen. Spätestens bei der zweiten Strophe klappt’s dann bestimmt.“
Er schaute sie an. Sie nickte und meinte: „Ich werde mich anstrengen, Benno. Obwohl ich eigentlich gar nicht singen kann, aber ich bin lernfähig.“
Der Basslauf als Intro, da konnte er sich schon einmal auf den Rhythmus der Musik einstimmen, um dann seine Schritte irgendwie zu koordinieren. Am besten geeignet waren leicht tänzelnde Bewegungen. Das machte er auf der Bühne auch immer so. Machten ja viele Gitarristen. Wenigstens die, die er im Beat-Club im Fernsehen gesehen hatte. War schließlich keine Marschmusik, die er da zum Besten geben wollte. Da waren Rhythmus und Takt natürlich eindeutig. Nämlich auf das Marschieren ausgerichtet.
Den Text hatte er parat. Es war eines ihrer älteren Stücke. Eric Burdon war damit ja schon 65 in den Charts gewesen.
Ab der zweiten Strophe bekamen Siggi und er den Wechselgesang im Refrain hin. Das kleine Solo – nicht wirklich anspruchsvoll – gelang ihm. Allerdings musste er dazu stehen bleiben, um im Rhythmus nicht durcheinander zu kommen. Nach den offiziellen fünf Strophen fügte er noch die selbst geschriebenen drei Strophen an. Darauf war er sehr stolz gewesen, dass er Burdons Song erweitert hatte und dass seine Kollegen den Text akzeptiert hatten. Besonders die letzte Strophe mit ihrer ersten Zeile hatte es ihm da angetan: I’ve never felt like this, I’m longin’, I’m longin’ for a kiss.
Nach seinem letzten yeah blieben sie stehen.
„Die letzten drei Strophen sind nicht von Burdon. Und die letzte Strophe gilt gerade jetzt ganz besonders.“
Er schaute sie an, schulterte die Gitarre auf dem Rücken und versuchte so beiläufig wie möglich zu sagen: „Was sagst du zu dem Verlangen des Sängers, von dem wir da gerade gehört haben?“
Sie überlegte, wie wenn sie gerade noch einmal rekapitulieren musste, was der Sänger denn eben so alles von sich gegeben hatte, um dann zu antworten: „Ist der Sänger auch der Dichter dieser letzten drei Strophen?“
Er nickte: „Ja, muss ich gestehen. Ist wohl so. Ja, stimmt. Die hab’ ich verbrochen, Siggi.“
„Na, dem Sänger kann doch geholfen werden.“
Sie zog ihn zum Wegesrand, stellte sich dort auf einen kleinen Grashügel, umarmte ihn – jetzt fast auf gleicher Höhe mit ihm – und gab ihm einen ganz zarten Kuss auf seine Wange. Wie zu seinem Geburtstag. Sah ihn dann an und meinte: „Ich glaube, der Sänger meinte da etwas Anderes? Richtig?“
Er nickte nur.
Und sie küssten sich auf den Mund. Ein züchtiger Lippenkuss.
„Oder meinte der Sänger das etwa
ganz
anders?“
Er nickte wieder nur. Und es folgte ein richtiger Kuss. So mit allem Drum und Dran.
„Hat der Song noch mehr Strophen, Benno? So selbst gedichtete?“
Sie stieg von ihrem Hügel herunter, nahm seine Hand und so gingen sie weiter.
Was sollte er jetzt darauf antworten? Zu lange mit einer Antwort zu warten, war auch nicht gut. Klar hatte der Song noch mehr Strophen. Diese letzte Strophe war – um in ihrem Combo-Jargon zu bleiben – doch erst das Intro. Aber so wollte er nicht mit der Tür ins Haus fallen.
„Ich muss mal überlegen. Vielleicht soll ich da noch gleich etwas weiterdichten?“
„Ja, mach’ mal, Benno.“
Sie verfiel in einen tänzelnden Schritt, der ihn zwang mitzutänzeln, wenn er ihre Hand nicht loslassen wollte. Und das wollte er nicht. Die Gitarre ließ er auf dem Rücken. So hatte er etwas mehr Bewegungsfreiheit.
„Sag’ mal, was ist das Ziel unserer Reise? Kennst du das?“
Sie blieb stehen und sah ihn an.
„Oder geht es mehr so ins Blaue?“
„Nee, nicht ins Blaue, Siggi.“
Obwohl – wusste er so genau das Ziel ihres Weges? John war ziemlich vage in seinen Andeutungen geblieben. Was sie genau erwartete, wusste er ja wirklich nicht. In der nächsten Kurve sollte er ganz genau aufpassen. Linkerhand, oder so ähnlich.
„Also in dieser Kurve hier, die um die Quelle des Krebsbaches herum nach rechts führt, geht ein kleiner Trampelpfad nach links. Eigentlich nur scheinbar ins Unterholz, aber tatsächlich ist das Ziel nichts Holziges.“
Teufel! Wie sollte er das Ziel beschreiben, das er selbst gar nicht kannte? John hätte auch ruhig etwas genauer sein können in seinen Angaben. Oder er hätte genauer nachfragen können. War ja nicht nur Johns Fehler. Nicht immer die Schuld wegschieben! Stimmte doch! Er hätte doch nachfragen können. Jetzt musste er eben kreativ sein. Nicht immer seine Stärke. Musste er leider zugeben.
„Also das Ziel ist bemerkenswert, wenn ich das recht erinnere.“
„Du bist also schon einmal dort gewesen?“
Sie verhielt im Schritt.
„Mit einer anderen?“
Scheiße! Mannomannomann! Auf was hatte er sich da eingelassen. Da kam er ja gar nicht wieder heraus aus dieser Nummer. Entweder er gestand, dass er gar nicht wusste, wo es hinging. Sondern dass das Carolas und Johns Beischlafplatz war, den er jetzt krampfhaft versuchte anzusteuern. Warum denn das wohl, Nachtigall ... ? Deutlicher ging’s ja wohl nicht. Oder er gestand – in diesem Fall ja fälschlicherweise –, dass er dort schon mit einer anderen gewesen war. Und was hatte er dann dort wohl gemacht? Wusste er ja selbst nicht. Er wusste ja gar nicht, wohin es ging. Mannomannomann!
„Oder weißt du gar nicht, wo es hingeht? Also doch mehr so eine Fahrt ins Blaue? Das wäre ja doch wunderbar. Ich liebe Überraschungen.“
Sie drückte seine Hand. Kräftig? Kräftig. War vielleicht die beste Variante, wenn er das mal so stehen ließ. Vielleicht kam sie auf die präziseren Nachfragen gar nicht wieder zurück. Und dass das Ziel nicht in Ordnung war, das traute er John nicht zu. Dass der ihn ins Messer laufen ließ? Nee, da konnte er sich hundertprozentig verlassen. Der John wusste genau, wie man sich in einer solchen Situation fühlte. Also: Genau aufpassen. Dass er das Ziel auch fand.
Dort war der Trampelpfad. Das Gras am Wegesrand war frisch niedergetreten. Eindeutig. Das musste es sein.
„Hier müssen wir links ab, Siggi. Mitten in den Wald hinein.“
Na toll. Das hatte also schon mal geklappt. Wie war die nächste Anweisung gewesen? Hundert Meter, immer enger werdender Weg, unter Sträuchern und Zweigen das Ziel. Was es wohl war?
„Es wird jetzt ein bisschen eng. Ich gehe mal vor.“
Er ließ sie trotzdem nicht los, drückte Zweige zur Seite, bahnte sich und ihr den Weg. Wie lang waren hundert Meter im Dschungel? Na gut, das war hier kein Dschungel. Aber Entfernungsangaben gab es trotzdem nicht. Schwierig, schwierig. Hauptsache, sie verließen diesen Trampelpfad nicht. Dann konnte doch eigentlich nichts schief gehen. Wenn John sie nicht verladen hatte. Nee, das hatte der nicht.
„Einen Augenblick dauert’s noch. Bin ich zu schnell? Kommst du mit?“
Sie drückte nur seine Hand. Das war wohl die Antwort. Dass sie ihm vertraute. Gutes Gefühl. Hoffentlich konnte er sich dessen als würdig erweisen.
Sah das dort rechts nicht wie ein größerer Haufen aus? Gebüsch? Zweige? Stimmte doch alles. Was suchte er eigentlich?
Da hinten blitzte es durch die Zweige. Das wenige Sonnenlicht, das sich noch hierher verirrte, fand dort offenbar etwas, in dem es sich spiegeln konnte. Einen Spiegel. Tatsächlich. Einen Spiegel. Und zwar einen Außenspiegel eines Autos. Und was für eines Autos! Das war ja, soweit man das durch Gebüsch und Zweige erkennen konnte, ein Amischlitten. Ein richtiger Straßenkreuzer. Mannomannomann! Der gute John. Das musste ihr Ziel sein. Das war ihr Ziel. Hier also ...
„Voilà, Siggi! Wir sind am Ziel unserer Reise. Was sagst du nun?“
„Mensch, Benno, das ist ja ein dolles Auto! Ist der offen? Kann man da mal Platz nehmen?“
„Klar“, nun mal nicht übertreiben, woher wusste er das? „Augenblick, ich räume nur mal gerade die Zweige zur Seite.“
Die waren nur sehr nachlässig gegen die Fahrertür – erdig-cremiges Rot – gelehnt und ließen sich leicht beiseiteschieben. Er öffnete die Fahrertür, was keine Probleme bereitete, und bat Siggi mit einer weltmännischen Geste einzusteigen. Was sie auch tat. Sie machte sich gut hinter dem Steuer in diesem Riesenschlitten. Sah scharf aus. Noch schärfer.
„Mensch, Siggi, das Auto steht dir gut. Du passt da ’rein, wie wenn das genau dein Auto ist. Scharf. Also wirklich.“
Seine Gitarre lehnte er gegen einen Baum, dann schob er noch einige weitere Zweige beiseite, die ja ganz offensichtlich Carola und John nach ihrem letzten Tête-à-Tête hier zur Tarnung aufgebaut hatten. Am Heck las er dann auch die Markenbezeichnung: Edsel. Das war doch die gescheiterte Version eines Ford-Modells, das nach nur zwei oder drei Jahren wieder eingestampft worden war? Ende der Fünfziger musste das gewesen sein.
Der Wagen war zweifarbig: Der größte Teil des Wagens in diesem cremigen Rot, das Dach und Teile der Haifischheckflossen in einem – ebenfalls cremigen – Beige.
„Benno, komm’ ’rein! Hier ist Platz für zwei. Mindestens! Ein scharfer Schlitten! Sag’ mal, wo hast du den ausgegraben? Bist du schon öfter hier gewesen?“
Sie sah ihn von unten an.
„Mit einer anderen?“
Eindeutig zu viele Fragen. Er sagte erst einmal nichts, sondern machte Anstalten, auch einzusteigen. Sie rutschte auf die Beifahrerseite und er setzte sich hinter das Steuer.
„Wirklich ein heißer Wagen. Nee, ich bin noch nicht hier gewesen. Sondern genau so überrascht wie du. Ehrlich. John hat mir von dem Ziel erzählt. Carola und er sind wohl zu ihren Schäferstündchen hier gewesen.“
Na, hoffentlich fand sie das jetzt nicht zu anzüglich. Obwohl: Genau darum ging es ihm ja eigentlich auch. Doch genau darum. Aber das musste er ja noch nicht so durchblicken lassen. Die Dinge mussten sich ja schließlich entwickeln.
„Ja, komm’ erst mal ’rein, Benno.“
Sie rückte von ihrem Beifahrersitz wieder näher an ihn heran. Vorne könnten auch locker drei Personen sitzen, ohne sich ins Gehege zu kommen. Hinten ebenso. Die Sitze vorne waren asymmetrisch geschnitten. Der Fahrerplatz war wirklich solo. Der Beifahrersitz mindestens doppelt so breit wie der Fahrersitz. Das war sicherlich
der
Platz gewesen. Für Carola und John. Nahm er mal an. Liegesitze? In Amerika war alles möglich. Und da John ihm technisches Verständnis attestiert hatte?
Er schloss die Tür. Heißer Klang. Tief und satt. Big-Car-Sound. Er legte seine Hände um das Lenkrad. Tolles Gefühl. Mit dem Schlitten müsste man mal auf die Straße. Na ja, mit diesem wahrscheinlich nicht. Der war ja wohl höchstwahrscheinlich hier abgestellt. Endgültig abgestellt. Wenn man den Blick über die Motorhaube nach vorne richtete, sah man im Waldboden Reifenspuren. Auf diesem Wege hatte der Wagen dann wohl hier seinen Platz gefunden.
„Wie ist so die Qualität der Sitze? Alles okay?“
„Super, Benno. Das ist doch ein wunderbares Auto. Weißt du, was das für eine Marke ist? Ich kenne nur Chevrolet und Cadillac. Ist das einer von den beiden?“
„Nee, das ist ein Edsel. Genau ein Ford Edsel.“
Sein Blick fiel auf das Handschuhfach.
„Ganz genau ein Edsel Pacer. Über den Edsel habe ich einmal etwas gelesen. Der ist nämlich, nachdem er 1957 erstmalig von Ford vorgestellt und ab 1958 verkauft worden ist, nur zwei, drei Jahre produziert worden, und dann ist die Produktion sang- und klanglos wieder eingestellt worden. Das war eine riesige Pleite für Ford. Und vielleicht hat dieser hier ja auch zu früh schlappgemacht. Und deshalb steht er nun hier. Obwohl – so vergammelt sieht der gar nicht aus.“
Halt stopp! Nun mal nicht zu viele Auto-Vorträge! Kein Technik-Seminar! Er wollte doch eigentlich etwas ganz Anderes. „Für uns, Siggi. Für uns steht der hier in der Wildnis.“
„Ist doch toll. Unser Glück. Hier fühlt man sich doch gleich – wie soll ich sagen? – irgendwie erhoben? Der hat doch eine Wirkung auf einen. Auf den Fahrer. Und jetzt auf uns. Also ich fühl’ mich schon ganz anders als eben noch, bevor wir uns hier ’reingesetzt haben.“
Sie kuschelte sich an ihn. Das war ja wie in amerikanischen Filmen, in denen die Teenager – die dort ja schon viel früher ihren Führerschein bekamen – durch die wahnsinnige amerikanische Landschaft oder durch die noch wahnsinnigeren amerikanischen Städte fuhren. Natürlich immer in solchen Schlitten. Den einen Arm entspannt aus dem Fenster hängen lassend, den anderen lässig um die Schöne auf dem Beifahrersitz gelegt. Wie lenkten die dann eigentlich?
Er legte seinen Arm um Siggi.
„Ja, mir fehlen noch etwas die Worte. Aber einfach doll, die Kiste.“
Musik, das wär’s jetzt eigentlich. Halt, stopp! „Bemerkenswerter Ort mit Musik“ – so hatte sich John geäußert. Das konnte dann doch nur bedeuten, dass der Wagen noch eine intakte Batterie hatte.
Er sah sich das Radio an, das im Armaturenbrett gleich neben den Rundinstrumenten eingebaut war, und er wagte einen Blindversuch und drückte auf den linken runden Knopf. Und augenblicklich gab’s Musik.
„… and now it’s time for Sebastian’s Spoonful.“
Und
Did You Ever Have To Make Up Your Mind
erklang.
„Mensch, Benno! John Sebastian! Ist der nicht süß?“
Er drehte am Lautstärkeregler. Der gleiche Knopf. Wieder ein Treffer. Und der Wagen war erfüllt. Mannomannomann!
„Siggi! Ich hör’ jetzt gerade mal nur noch zu.“
Er nahm sie fest in den Arm, sie rückte noch näher an ihn heran. Und sie hörten zu. Der Geschichte von einem etwas unsteten Geist, der die eine aufgabelte und die andere verabschiedete. Gefährlicher Stoff. Wenn sie Spoonful-Fan war, kannte sie den Text eventuell? Klang verdächtig nach seinem Lebenswandel der letzten zehn Tage. Der Typ aus dem Song stellte sich dann immer die Frage:
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
Lovin’ Spoonful, s.o.: John Sebastian stellt hier die wirklich wegweisende Frage: Musstest du dich jemals entscheiden? Benno ist wohl gerade dabei, sich zu entscheiden, sieht aber den positiven Ausgang dieser Entscheidung gefährdet durch sein bisher doch irgendwie recht loses Herumvagabundieren.
oder auch, sozusagen schärfer gefasst:
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
.
Lovin’ Spoonful, s.o: Hier etwas eindringlicher formuliert die Frage, ob derjenige, um den es in diesem Song geht, sich denn schon jemals und wirklich endgültig und bindend entscheiden musste.
Gefährliches Pflaster. Obwohl die Fragen angesagt waren. Vielleicht nicht finally. Aber für diese zwei Wochen? Und darüber hinaus? Gut, erst mal zuhören und genießen. Dieses wunderbare Wesen im Arm. In diesem wunderschönen Auto. Bei dieser wunderschönen Musik. Er drückte Siggi ganz fest an sich, und sie drückte sich ganz fest an ihn. Das war keine Einbildung.
Als die Spoonful an die Stelle kamen, in der es hieß:
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
,
Lovin’ Spoonful, s.o.: Die – bedrohliche – Situation ist die, dass Sebastian eine Szene schildert, in der der wohl ebenfalls sehr lockere Lebenswandel durch den Vater der Angebeteten, der jäh auftaucht, massiv thematisiert wird, indem dieser den Verehrer seiner Tochter zur Brust nimmt und ihm den Rat gibt, er solle man erst einmal nach Hause gehen und sich sortieren. Siggi ist Spoonful-Fan – kein Zweifel möglich.
kam es für ihn in dem Moment dann doch unerwartet: „Sag’ mal, Benno“, sie kuschelte sich an ihn, „in der Sonntagnacht war die Manuela bei dir?“
Mannomannomann! Sie war also Spoonful-Fan, und zwar ein kundiger. Und noch bevor er sich gesammelt hatte und antworten konnte, fügte sie hinzu: „Recht lange, nicht wahr?“
Flunkern nutzte nichts, die Fakten waren ganz offensichtlich bekannt. Und dass die Manuela und er nachts Kaffee getrunken und geplauscht hätten, war kaum glaubwürdig zu vertreten. Und jetzt lange zu überlegen war unklug. Genau so wie herumzureden. Also!
„Richtig. Stimmt. Muss ich gestehen. Und dass wir nur geredet hätten, wäre eine Lüge. Also, wie soll ich sagen ...?“
„... ihr habt miteinander geschlafen. Wenn ich Manuelas Sprachgebrauch verwende, dann habt ihr es mindestens miteinander getrieben. Aber noch lieber sagt sie: Ihr habt gefickt. Stimmt’s?“
Er nickte nur.
„Und das war auch genau euer Thema, als ich dich und den Sergeant an deinem Geburtstag mitten in deiner Rede überrascht habe. Stimmt’s, Benno?“
Er nickte wieder nur. Mit Mannomannomann war das schon gar nicht mehr zu packen. Mist!
„Muss ich – außer den allseits bekannten Heuwender-Ereignissen, was macht eigentlich dein Wundmal? – noch etwas wissen?“
Was sollte er jetzt sagen? Ehrlich die Julia-Geschichte gestehen? Oder waren dann alle Züge abgefahren, und zwar gleichzeitig und in verschiedene Richtungen? Oder darauf bauen, dass die Julia dichthalten würde, um ihre Liaison mit dem Sergeant nicht zu gefährden? Teufel auch! Aber da musste er jetzt wohl durch.
„Also – offensichtlich mein Wort in diesen Tagen – also, wie soll ich sagen? Da gibt es noch etwas, was ich dir nicht verheimlichen will. Ich möchte dich aber aus bestimmten und wichtigen Gründen bitten, mit der Information vorsichtig umzugehen. Auch wenn du vielleicht gleich weg willst von hier. Ich möchte nämlich nicht das Glück vom Sergeant Pepper gefährden. Und durch diese Andeutung weißt du wahrscheinlich schon, um wen es sich dreht.“
Er drehte sich zu ihr um und sah sie an.
„Der Reihenfolge nach: Die Marie-Anne habe ich geküsst. Mehr nicht, ganz bestimmt, Siggi! Mit der Manuela habe ich geschlafen. Stimmt, muss ich zugeben.“ Er machte eine kleine Pause und überlegte. „So, und vorher habe ich auch einmal mit der Julia geschlafen. Jetzt kennst du die Fakten.“ Nachdem sie nichts sagte: „Willst du noch die Umstände erfahren? Die wären für eine sachgerechte Beurteilung vonnöten?“
Sie sah ihn ganz ernst an. Obwohl er das Gefühl hatte, in ihren Augen blitzte so etwas wie Schalk.
„Du hast das Wort, Benno.“
„Also die Marie-Anne wollte ich gar nicht küssen. Sie hat mich geküsst. Ich weiß, billige Ausrede. Ist aber so gewesen. Und es ist bei dem einen Mal geblieben. Mit ja bis heute sichtbaren Folgen. Aber sie fand eigentlich den Kalle gut. Warum sie mich nun auch geküsst hat, weiß ich gar nicht mehr so genau.“
Stimmte ja nicht so ganz. War aber vielleicht eine harmlose Lüge. Und dass er da außerdem noch mit der Manuela herumgeknutscht hatte und
sie
es war, die für die Male zuständig war, ließ er vorsichtshalber ebenfalls unerwähnt.
„Dann kam die Julia und bat mich – das kannst du jetzt glauben oder nicht – um einen Beischlaf. Ich weiß nicht, wie ich das besser formulieren soll. Sie hatte sich in jemanden verliebt – wie wir jetzt wissen, in den Sergeant – und wollte das erste Mal hinter sich bringen. Was ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste. Trotzdem habe ich von Anfang an nicht so recht Gefühl und Leidenschaft investiert. Vielleicht habe ich etwas geahnt. Na ja, und dann kam die Nacht von Sonntag auf Montag. Und die Manuela. Wenn ich auch hier ehrlich bin, muss ich gestehen, dass es leidenschaftlich zuging. Wobei mir trotzdem irgendwie zugleich klar war, dass man mit Manuela keine längerfristige Beziehung eingehen kann. Wenigstens zur Zeit nicht. Aber du kennst sie ja wahrscheinlich besser. Schließlich wohnst du ja seit einer ganzen Reihe von Tagen mit ihr zusammen. Da bleiben Gespräche doch gar nicht aus.“
Da er sie während seines Geständnisses die ganze Zeit angesehen hatte, meinte er in ihren Augen so etwas wie Zustimmung lesen zu können. Zu welchem seiner Sätze auch immer. Und auch noch immer so eine Art Lächeln?
„Na gut, und jetzt kommst du ins Spiel. Das heißt:
Jetzt
stimmt gar nicht. Du kamst schon in der Vorstellungsrunde ins Spiel, als du mir deine Hand auf den Arm gelegt hast. Und das gleich zweimal. Ich habe mitgezählt. Oder am nächsten Tag in der Kirche, als unsere Beine sich berührten und du mich noch einmal mit deiner Hand berührt hast. Oder an meinem Geburtstag, als du mir einen Kuss auf die Wange gegeben hast.“ Nach kurzem Durchatmen: „Den ich noch immer spüre.“ Noch eine Atempause: „So sind die Verhältnisse.“
Jetzt sah er geradeaus über den Lenker hinweg in den Wald, den beiden Reifenspuren mit seinem Blick folgend.
„Um es auf den Punkt zu bringen – auch wenn es bei der eben geschilderten Vorgeschichte fast unglaublich ist –, aber ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, Siggi. Und das nicht erst seit heute.“
Noch einmal Luft holen.
„Nee, ich bin mir sogar sicher, Siggi!“
Jetzt drehte er sich wieder zu ihr um.
„Und jetzt möchtest du mit mir schlafen, stimmt’s?“
Sie lachte tatsächlich! Das bildete er sich nicht ein.
Bevor
oder
nachdem
ich dir
meine
Vorgeschichte erzählt habe, Benno?“
Vorher
, Siggi!
Vorher
! Unbedingt
vorher
! Geschichten sind Geschichten. Und Geschichten sind im Moment genug erzählt!“