Sie fiel ihm auf.
Ihre Augen hatten etwas Spezielles.
Ihr Blick war abschätzend-herausfordernd.
Und irgendwie sexuell.
Konnte man einen
sexuellen Blick
haben?
Sie hatte einen – und sie war älter als die anderen.
Oder sah sie nur älter aus?
Er nahm an, dass sie auch tatsächlich älter war.
Aber das würde er bald erfahren. Wenn sie ihre Zimmer bezogen hätten, gäbe es als erstes Gemeinschaftserlebnis eine Vorstellungsrunde. Mit allem, was so dazugehörte. Bestimmt auch mit Altersangaben. Verschämt und leise geäußert, wenn man noch keine sechzehn war. Einigermaßen selbstbewusst, wenn man die Sechzehn schon erreicht hatte. Er sollte in wenigen Tagen siebzehn werden. Also „sechzehn ...“ und nach kurzer Pause „... aber ganz bald siebzehn!“ würde er selbstbewusst sagen. Das hatte er sich ganz fest vorgenommen. Wenn man denn tatsächlich schon siebzehn war, vielleicht sogar achtzehn, wäre eine gewisse Lässigkeit im Auftreten bei dieser ersten Runde zu erwarten. Ältere waren bestimmt nicht dabei. Mit Ausnahme einer Mittzwanzigerin. So alt schätzte er sie wenigstens. Wahrscheinlich die Köchin und Hauswirtschafterin. „Eine ausgebildete Köchin und Hauswirtschaftsmeisterin wird – unter tätiger Mithilfe Ihrer Kinder – für das leibliche Wohl sorgen“, hatte er in einer Mitteilung an seine Eltern gelesen. Allein schon „Kinder“! Und dann waren da natürlich noch – unschwer erkennbar, weil wirklich deutlich älter als alle anderen – die beiden Leiter dieser „Freizeit“, so der offizielle Titel dieser Unternehmung. Die beiden waren Pastoren, sicher jenseits der Dreißig, mit abgeschlossenem Studium und vielleicht sogar einigen Jahren Berufserfahrung.
Sie, die ihm da auffiel, sortierte er in Gruppe drei ein. Wenn nicht sogar in Gruppe vier? Oder war sie vielleicht noch älter und gehörte auch zum Küchenpersonal, sozusagen außerplanmäßig? Die „Teilnehmer“ sollten alle in etwa gleich alt sein, so hieß es in einem letzten Schreiben. Vielleicht war sie gar keine „Teilnehmerin“? Aber auch das würde er ja bald erfahren.
Zweibett- und Vierbettzimmer waren im Angebot. Aber man konnte keine Wünsche äußern, sondern die beiden Leiter zogen schon fertige Pläne aus der Tasche. Er fand sich mit seinem Kumpel John – der immer sehr betonte, nicht englisch ausgesprochen zu werden, „nicht Dschonn, sondern mit normalem Jot und langem O“ – in einem Zweibettzimmer notiert. Im ersten Stockwerk. Das eigentlich das Mädchen-Stockwerk in dem Jugendzentrum war. „Evangelisches Jugendzentrum“, so der offizielle Titel des Hauses. Hier sollten sie die nächsten vierzehn Tage leben. Zwei Ausnahmen in Sachen Zimmerbelegung gab es. Ihr Zimmer und noch ein weiteres Zimmer, in dem zwei Mädchen notiert waren. Im Erdgeschoss waren die beiden Vierbettzimmer für die Jungen. In einem waren, wie sie jetzt hörten, wegen einer kurzfristigen Absage nur drei Betten belegt. Nach welchen Kriterien wohl die Wahl auf sie für das Zweibettzimmer gefallen war? Aber Zweibettzimmer fand er sehr in Ordnung. Er hasste Horden schnarchender und dünstender Menschen. So war es im letzten Jahr gewesen. Da war er mit der gleichen Organisation im Sommer unterwegs gewesen und war in einem Zwölfbettzimmer gelandet. Es gab überhaupt nur
ein
Jungs- und
ein
Mädchenzimmer. Fürchterliche Zustände waren das. Vorbereitung auf zu erwartende Verhältnisse beim Bund, wenn er da denn hin müsste. Also Zweibettzimmer war sicher nicht schlecht. Und Mädchenstock ja eigentlich auch nicht. Eher im Gegenteil. Fast schon das große Los.
Die Mädchen verteilten sich auf zwei Vierbett- und ein Zweibettzimmer.
Die beiden Leiter hatten je ein Einzelzimmer im Erdgeschoss. Die Dame für Küche und Hauswirtschaft – die hatte er richtig zugeordnet – war auch im ersten Stockwerk untergebracht. Ebenfalls in einem Einzelzimmer. Also in beiden Stockwerken war für Ordnung gesorgt. Wenigstens auf dem Papier der beiden Leiter.
John und er schnappten sich Reisetasche und Gitarre – mit Gitarre waren sie wohl die einzigen – und folgten dem Strom der anderen. Die Jungen verteilten sich unten auf die Zimmer, und sie folgten den Mädchen in den ersten Stock. Kavaliere, die sie waren, ließen sie den Mädchen den Vortritt.
Die Mädchen rochen gut. Mädchen rochen überhaupt gut. Eigentlich immer. Auch wenn sie schwitzten.
Das ließ sich ja gut an. Mit dem Ellenbogen – seine Hände waren mit Gepäck und Gitarre beschäftigt – knuffte er John in die Seite. Der lächelte und fand Ambiente und Umstände wohl ebenfalls in Ordnung.
„Kein schlechter Start, findste nicht auch?“, murmelte er.
John nickte nur und flüsterte: „Edel, mein Lieber. Edel. Man könnte fast sagen, bemerkenswert edel.“
Ihr Zimmer befand sich direkt neben einem der Mädchenzimmer, in dem
sie
mit noch einem Mädchen verschwand. Möglicherweise das zweite Zweibettzimmer? Diese Andere hatte auffallend schwarze Haare. Wirklich tiefschwarze Haare. Und auffällig war auch ihre Frisur: ein sehr exakt geschnittener Bubikopf.
Sie
war bestimmt schon achtzehn. Da war er sich jetzt doch ziemlich sicher. Damit zu alt für ihn. Mädchen in dieser Altersgruppe legten doch immer Wert darauf, sich auf keinen Fall mit Jüngeren einzulassen. Vielleicht sollte er es nachher in der Vorstellungsrunde bei einem einfachen und knappen „sechzehn“ belassen. Ohne weiteren Kommentar. Um für alle Welt – aber besonders für sich selbst – die Verhältnisse klarzustellen. Sie hätte bestimmt kein Interesse an einem Jüngeren. Und er hätte sich selbst geerdet, sozusagen rechtzeitig wieder eingefangen. Er müsste sich dann eben bei den etwas jüngeren Mädchen umschauen. Da waren bestimmt auch ganz Patente oder Interessante dabei. Oder vielleicht sogar Schöne? Aber
Spezielle
fand er schon am schärfsten.
Das Zimmer war in Ordnung. Groß, keine Doppel- oder Stockwerkbetten. Zwei einzelne Betten an gegenüberliegenden Wänden. Wenn man in das Zimmer trat, schaute man direkt durch zwei große Doppelflügelfenster in den Wald, der das Haus von drei Seiten umgab. Im Zimmer befand sich noch ein Tisch mit vier Stühlen zwischen den beiden Betten, die an den Schmalseiten des Zimmers standen. Neben der Tür dann links und rechts zwei kleine Schränke für ihre Sachen. Über den Kopfenden des Betts – beide Betten waren so ausgerichtet, dass man aus dem Fenster schaute – waren an der Wand kleine Leselampen angebracht. Und über den Betten hingen zwei Kunstdrucke. Was das für Werke waren, konnte er auf die Schnelle nicht erkennen. Sah nach irgendwelchen altertümlichen Radierungen aus. Vermutlich religiösen Inhalts.
Sie hatten es wirklich gut getroffen. Das Zimmer sah eher nach einem Leiterzimmer aus und war in seinem Platzangebot fast komfortabel.
„Wat sachste nu, John? Läuft doch schon mal nicht schlecht, oder?“
„Stimmt, Benno. Stimmt bemerkenswert.“ Er stellte seine Reisetasche auf den Fußboden.
„Sag’ mal, ist dir beim Zimmereinteilen die kleine Blonde aufgefallen? Blonde, schulterlange Haare und braune Augen. Hatte eine Jeans und eine Jeansjacke an.“
Er überlegte kurz, aber er hatte eigentlich vom ersten Augenblick an nur Augen für
sie
gehabt und alles andere – inklusive alle anderen – nur so am Rande wahrgenommen.
„Nee, John, kann ich nicht mit dienen. Blond mit braunen Augen? Klingt ja gut. Muss ich nachher mal drauf achten. Wird ja bestimmt ’ne Vorstellungsrunde geben, bei der man sich dann beschnuppern kann.“
Sollte er ihm von seiner Entdeckung erzählen? Nee, nee, man lieber erst mal abwarten.
Jetzt stellte auch er sein Gepäck ab.
„Oder was meinst du? War doch letztes Jahr genauso.“
Sie waren auch vor einem Jahr gemeinsam unterwegs gewesen.
„Wird wohl“, John schaute sich im Zimmer um, „welches Bett nimmst du? Links oder rechts? Ins Licht gucken beide.“
„Ich links, du rechts? Okay?“
John legte kommentarlos seine Gitarre auf das rechte Bett. Dann ging er zu den Fenstern und öffnete zwei Flügel. Es roch ein wenig muffig in dem Raum. So wie wenn der eine Weile nicht bewohnt worden war. Von draußen kamen Vogelstimmen. Buchfinken und Zaunkönige konnte er unterscheiden. Und man hörte aus dem Nachbarzimmer – dort hatte man offensichtlich auch die Fenster geöffnet – Stimmen. Helle Stimmen. Weibliche Stimmen. Das war ja alles wunderbar.
„Was erzählen die beiden Mädels so? Kannst du was verstehen?“
John horchte gespannt, schüttelte dann aber den Kopf.
Sie sortierten schnell ihre Sachen in die Schränke, bezogen die Betten und gingen wieder nach unten in den Gemeinschaftsraum. Dort sollten sie sich treffen, nachdem sie ihre Zimmer bezogen und die Sachen verstaut hatten.
Da noch niemand da war – sie waren wohl sehr fix gewesen –, gingen sie durch die Terrassentür aus dem Gemeinschaftsraum hinaus auf den gepflasterten Vorplatz, auf dem eine fest installierte Tischtennisplatte stand. Außerdem gab es auf diesem terrassenähnlichen Platz noch eine ganze Reihe von Gartenstühlen und Liegestühlen. Sicherlich nicht genug für ihre Gruppe. Aber das war ja auch eher unwahrscheinlich, dass alle zugleich das Gleiche wollten.
Von diesem Platz aus hatte man einen guten Blick auf große Teile des Dorfes, an dessen Rand dieses Jugendzentrum stand. Hinter dem Haus begann dann ein Wald, der das sacht ansteigende Gelände bedeckte.
Das Dorf lag bei strahlendem Sonnenschein unter blauem Himmel im Tal vor ihnen, umgeben von einer bewaldeten Mittelgebirgslandschaft. Dass das Jugendzentrum so viel höher als der Ort lag, war ihm bei der Fahrt zu ihrem Haus gar nicht aufgefallen. Viele Fachwerkbauten waren zu sehen, winkelige Gassen, zwei Kirchen, vermutlich eine katholische – sie waren hier im Südwesten der Republik –, aber offensichtlich auch eine evangelische. Wäre aber auch eigenartig gewesen – John würde sagen „bemerkenswert eigenartig“ –, wenn es anders wäre. Die Organisation, die diese Ferienfreizeit hier veranstaltete, war eine evangelische. Also war garantiert am Sonntag, also morgen zum Beispiel, Kirchgang angesagt. Und das sicher nicht in einer katholischen Messe.
Den Dorfplatz, den man allerdings von hier aus nicht sah, und mindestens eine Kneipe hatten sie bei der Herfahrt gesehen. Der Linienbus hatte sie bis vor die Haustür gebracht und war dabei zwangsläufig durch Waldtal gekommen. Die Haltestelle befand sich direkt neben ihrem Haus. So hatten sie ihr Gepäck nicht weit schleppen müssen. Auch in Heidelberg – der Endstation ihrer Bahnreise – hatten sie nur kurz den Bahnhofsvorplatz überqueren müssen und waren dann genau in diese Linie eingestiegen, die sie bis hierher gebracht hatte.
Da – wenigstens bisher – noch niemand etwas von einem Rauchverbot gesagt hatte, zündeten sie sich erst einmal eine Zigarette an. John rauchte Ernte 23, er selbst bevorzugte Filterlose. Heute hatte er Reval dabei.
Als sie die ersten Züge inhalierten, erschienen nach und nach weitere Teilnehmer im Gemeinschaftsraum. Und die kamen dann auch zu ihnen beiden heraus auf die Terrasse.