3 – Zufrühmorgens

Sieben Uhr war zu früh. Erst recht in den Ferien. Und außerdem war heute Sonntag. Also so ging’s eigentlich gar nicht. Aber um neun Uhr begann der Gottesdienst. Vorher Frühstück. Und davor Morgentoilette. Da würde er immerhin die Zeit fürs Rasieren sparen. Er hatte vor gut zwei Wochen beschlossen, sich nicht mehr zu rasieren. Seinen Eltern hatte er gesagt, dass er in den Ferien auch einmal Ferien vom täglichen Rasieren haben wollte. Das hatten sie geschluckt, gesagt hatten sie jedenfalls nichts. Die Schule begönne in gut drei Wochen. Wenn bis dahin sich etwas gebildet hätte, was er – mit gutem Willen – Bart nennen könnte, ginge er so zur Schule. Vorausgesetzt, er könnte sich bei seinen Eltern durchsetzen. Das wäre noch die größere Hürde. Größer als das Problem, ob da überhaupt genug Bart käme. Er war gespannt auf das Ergebnis. Ein kleines bisschen war jetzt schon zu sehen.
„Los, Dschonn, aufstehen! Im Haus wird schon gerödelt. Sieben ist durch! Dag ward liegers, ok wenn keen Haan kreit, mien Jung.“
Hätte seine Oma bestimmt gesagt.
„Mensch, Benno, lass’ mich in Ruhe. Bin heut’ krank. Kann auf keinen Fall mit zur Kirche. Sag’ das dem Anders und dem Jensen.“ Und im Nachsatz: „Außerdem heiß’ ich John, falls du das noch nicht weißt, mein Lieber!“, damit drehte er sich um, zog sich die Decke über die Ohren und machte keine Anstalten aufzustehen. Unter der Bettdecke hervor noch: „Und jetzt hau’ ab!“
Na, dann eben nicht. Dass er krank war, nahm er ihm erst einmal nicht ab. Auch John fand es sicher einen Moment zu früh für einen Sonntag in den Ferien. Außerdem waren sie erst spät zur Ruhe gekommen. Die lange Reise, die vielen neuen Gesichter, die ganz
besonderen
Gesichter, die neue Umgebung, die fremden Geräusche. Außerdem hatten sie gestern Abend noch etwas gespielt. Da war er immer besonders aufgedreht im Anschluss. Er hatte den Eindruck, kaum geschlafen zu haben. John ging es sicher ähnlich. Sie hatten erst nach zwei das Licht ausgemacht und dann noch eine ganze Weile geklönt.
Er stand auf, ging zum Fenster, zog die Vorhänge auf und öffnete beide Fenster. Im Wald war schon fix was los. Das war sogar durch die geschlossenen Fenster zu hören. Als er nach rechts schaute, Richtung Nachbarzimmer, sah er, dass dort auch gerade das Fenster geöffnet wurde und ein schwarzer Bubikopf erschien. Die Frisur nicht ganz so picobello wie gestern Abend. Siggi, die zusammen mit Manuela das Glückslos des Mädchenzweibettzimmers gezogen hatte.
Sie strahlte ihn an: „Guten Morgen, Benno. Wie hast du geschlafen?“
„Danke, Siggi. Geht so. Alles sehr ungewohnt. Vor allem viel zu kurz. Für einen Feriensonntag sowieso.“
Jetzt streckte auch Manuela, wohl angelockt durch die Unterhaltung, ihren Kopf heraus. Auch sie etwas zerzauselt.
„Hallo, Benno. Moin.“
„Moin, Manuela. Ich hoffe, du hast besser geschlafen als wir?“
Ob seine Frisur auch so aus der Form geraten war? Er ertappte sich dabei, dass er mit der Hand durch seine Haare fuhr.
„Nee, ich finde auch alles sehr fremd hier. Ich brauche immer einige Tage zum Eingewöhnen. Sehen wir uns gleich im Waschraum?“
Sie grinste und erwartete keine Antwort. Die Jungenwaschräume lagen im Erdgeschoss. Aber das war natürlich eine süße Vorstellung, wenn er da jetzt wie selbstverständlich – schließlich wohnte er ja auf diesem Stockwerk – in den Waschraum schlendern und sich ganz natürlich bei den Mädchen einreihen würde. Und diesen oder jenen verstohlenen Blick riskierte.
Siggi und Manuela waren beide verschwunden.
Der Blick aus ihrem Zimmer war toll. Wald, so weit das Auge reichte. Zwischen den Ästen sah man, dass die Sonne schon etwas länger auf den Beinen war als sie. Bestimmt seit fünf Uhr oder so. Sie stand schon recht hoch. Und wo die Bäume nicht so dicht standen, erreichte sie den Waldboden. Der in einem kräftigen Braunrot leuchtete und so einen schönen Kontrast zum satten Grün der Blätter bildete. Ums Haus herum standen nur Laubbäume.
Auch die Piepmätze waren schon hellwach. Und die Luft, die ins Zimmer strömte, roch herrlich frisch. Hatte vielleicht doch was, so früh auf den Beinen zu sein? Nur zur Kirche hatte er nicht so recht eine Meinung. Zwölfter Sonntag nach Trinitatis. Was dem Dorfpfarrer dazu wohl einfiele? Der war vorgewarnt, dass an den nächsten beiden Sonntagen seine Herde um zweiundzwanzig Schäflein anwachsen würde. Anders und Jensen hatten mit ihm von Kiel aus – sie kamen beide aus der Landeshauptstadt – Kontakt aufgenommen. Das hatten sie ihnen gestern noch gesagt, nachdem sie sich vorgestellt hatten.
Jetzt kam er auch darauf, an wen der Jensen ihn erinnerte: Größe, Haarschnitt, Stirntolle, Brillengestell, schlaksige Körperhaltung. Es wurde immer deutlicher, dass es sich bei Jensen um Charles Hardin Holley, den Zweiten, handelte. Buddy Jensen mit Stratocaster – das wär’s. Was er wohl für einer war? Ob ihm die Ähnlichkeit bewusst war? Na ja, sie würden ihn ja kennen lernen in den nächsten vierzehn Tagen. Anders war dreißig, Buddy Jensen einunddreißig. So alt wäre Buddy in diesem Jahr auch geworden.
Der Gemeindepastor hier sollte auch ein ziemlich junger Spund sein. Wohl noch unter dreißig.
„So, John! Du stehst jetzt auf. Erinnere dich, wir hatten abgemacht, dass wir darauf achten, dass keiner von uns beiden verpennt. Und du bist auf dem besten Wege. Und das am ersten Tag. So geht’s nicht!“
Er ging zu Johns Bett und zog an dessen Bettdecke.
„Okay, Benno, okay! In Ordnung! Ich steh’ auf! Keine Sorge! Ist schon gut!“
Er rollte die Decke zur Seite.
„Was sagen die Mädels so? Ich habe doch eben bemerkenswert weibliche Stimmen gehört?“
„Sie warten auf uns im Waschraum, John.“
John grinste: „Schön wär’s, Benno.“
Er setzte sich auf die Bettkante, griff sich seine am Stuhl lehnende Gitarre und fing sofort an zu singen: „There is a whorehouse near Heidelbörg, we call the Erected Prick, it is the ruin of many late boy, and, God,
I know I’m one ...
“. Das war metrisch und rhythmisch sehr holperig und kraus. Die entsprechenden Arpeggien spielte er aber für die frühe Morgenstunde leidlich synkopiert. Könnten sie heute Abend ja mal in dieser Version zum Vortrage bringen.
„Du kannst schon losgehen. Ich steh’ jetzt bestimmt auf, Benno. Versprochen.“
Damit stellte er die Gitarre wieder an den Stuhl und stand tatsächlich auf.


In der Kirche hatten sie sich in eine Reihe gesetzt. Er zwischen Sven Philipp und John. Sie hatten sich eine der hinteren Reihen ausgesucht. Und dann musste er wohl mehr oder weniger unauffällig weggeduselt sein. Seine Nachbarn hatten ihn nicht angestoßen, was sie verabredet hatten für den Fall, dass einer von Ihnen zu auffällig wegsacken würde. Wach wurde er, als auf einmal richtig Bewegung in die Kirche kam. Alle standen auf, sollten in den Mittelgang hinaustreten, aus einem Korb Zettel ziehen, auf dem die Nummern der Kirchenreihen notiert waren, und sich dann zu der entsprechenden Reihe begeben und dort wieder hinsetzen. Die Bankreihen waren durchnummeriert. Am zwölften Sonntag nach Trinitatis ging es um die Verwandlung. Konkret um die Verwandlung des Saulus zu Paulus. Der Bibeltext aus der Apostelgeschichte war bestimmt gerade verlesen worden. Und um ihnen das Thema Verwandlung „einmal am kleinen Beispiel augenfällig und sinnlich erfahrbar zu machen“ – so der Pastor –, hatte der diesen Platzwechsel vorbereitet.
„Das allein macht aus uns ja noch keine neuen Menschen, so wie in der Geschichte von Saulus’ Verwandlung zu Paulus. Aber in neuer Umgebung, neben neuen Menschen müssen wir uns neu auf Situation und Menschen einstellen. Und das wiederum hat – wenigstens kleine – Auswirkungen auf uns.“
Die Auswirkungen waren deutlich zu spüren. Alle waren wach. Und suchten natürlich ihre neuen Plätze. So fand er sich in der Reihe, die auf seinem Zettel stand, neben Siggi wieder.
Er flüsterte: „Denn man noch mal einen wunderschönen guten Morgen, Siggi“, er schaute sie an, „jetzt stimmt die Frisur auch wieder. Akkurat. Alle Achtung.“
„Guten Morgen auch dir, Benno“, flüsterte sie zurück, „hast dich auch gekämmt, wie mir scheint.“
Sie hatte wirklich einen strahlenden Blick.
„Wir Dithmarscher müssen zusammenhalten“, fügte sie noch ganz leise hinzu.
Damit rückte sie ein Stück näher an ihn heran, so dass sich ihre Beine berührten. Absicht? Auf jeden Fall warm. Kirchen waren irgendwie immer kalt. Nicht nur im Winter. Draußen war es schon richtig sommerlich-warm gewesen.
Heute hatte Siggi einen Rock an. Und ihre tiefschwarzen Haare setzten sich unübersehbar an ihren Beinen fort. Interessanter Kasus. Ob sie damit auch ganz selbstbewusst umging? Sprach einiges dafür. Sie hätte ja keinen Rock anzuziehen brauchen. Zudem noch einen so kurzen Rock, der alle Blicke – wenigstens seine – quasi magisch auf ihre Beine lenkte. Wie sich das wohl anfühlte, wenn man über solche Beine strich? Er hatte auch Haare auf seinen Beinen, massenhaft, und nicht nur dort. Ob sich Haare auf Frauenbeinen genauso anfühlten? Interessante Frage. Die Beantwortung müsste er aber im Moment verschieben. Sonst würde ihn das alles zu sehr aufregen. Schließlich waren sie hier in einem Gotteshaus. Da konnte er nicht in die Diskussion solch weltlicher Dinge einsteigen. Mit möglicherweise unabsehbaren Folgen.
Er konzentrierte sich jetzt auf das Geschehen auf der Bühne. Die hier ja Altar hieß. Durch ein Kirchenfenster fielen Sonnenstrahlen ins Kirchenschiff und auch in den Altarraum. Und bedingt durch die bunten Fenster war das Licht nicht einfach weißlich-gelb, sondern kam eher so regenbogenfarben daher. Sehr effektvoll inszenierte Lightshow. Fast wie bei einem Rockkonzert.
Der Pastor forderte sie gerade auf, ihr Gesangbuch zu öffnen. Sie würden jetzt das Lied einhundertachtundachtzig singen:
„Nun lob, mein Seel, den Herren, was in mir ist, den Namen sein.“
Evangelisches Kirchengesangbuch, Friedrich Wittig Verlag, Hamburg, 1959, Nun lob mein Seel …, Nr. 188
Es gab ein kleines Orgelvorspiel, so dass man die Möglichkeit hatte, sich auf die Tonart einzustellen, um nicht gar zu vielstimmig mit dem Gesang zu starten.
Eigentlich fand er Gesang in der Kirche – wenn er ehrlich war – mehr als öde. Mit zwei Ausnahmen. Unangefochten – und auch in diese Jahreszeit passend – führte
„Geh aus, mein Herz“
Evangelisches Kirchengesangbuch, s.o., Geh aus, mein Herz …, Nr. 371
seine Kirchen-Charts an. Aber knapp gefolgt von „Nun lob, mein Seel“. Er beschloss mitzusingen. Aus voller Kehle. Und eine Oktave tiefer als alle anderen. Sein altes Problem. Er konnte seine Band-Kollegen gut verstehen, dass die das immer scheel beäugten, wenn er sich mal hinter ein Mikro stellte und damit zu verstehen gab, dass er mitsingen wollte.
Siggi erwischte er wohl voll auf dem falschen Fuß. Auf dem falschen Ohr. Sie fing sofort an zu kichern. Hoch und kieksend. Das steckte Marie-Anne und Carola neben ihnen an. Die vor ihnen sitzenden Michaela, Jörn und Birgit – die hatte er alle gestern verpennt bei ihrer Vorstellung – drehten sich um, waren nicht mehr konzentriert, kamen aus dem Takt, hatten ihren Blick nicht mehr auf dem Text. Den sie natürlich nicht auswendig konnten. Wer kannte schon Kirchenlieder auswendig?
Verpennt war wohl nicht richtig. Gedanken hatte er sich gestern gemacht, die ihn halt abgelenkt hatten.
Als ihm auffiel, dass er offensichtlich die Ursache für die Unruhe war, bekam er auch schon einen Knuff mit dem Ellenbogen. Siggi raunte ihm – noch immer gickernd – zu: „Benno, hör’ auf zu singen. Oder sing’ vernünftig. Sonst sprengst du den Gottesdienst hier. Was machen wir als Gäste für einen Eindruck?“
Augenblicklich hörte er auf. Anders konnte er nicht singen. Das war ihm alles zu hoch. Schade, er kam gerade in Fahrt. Aber das wohl auch in seiner Lautstärke. Was dann Folgen hatte, die ihm gar nicht auffielen. Er sang voll konzentriert. So wie es seine Art war. Keine halben Sachen. Wenn schon, denn schon. Und den richtigen Ton treffen konnte er. Er sang nicht falsch. Dafür hatte er sogar die Bestätigung durch seinen Musiklehrer. Staatlich beglaubigt sozusagen. Aber eben immer sehr brummig. Zugegeben.
Also doch wieder Verhältnisse wie in der Band. Kein Mikro. Dann war er eben still.
Er lehnte sich zurück. Kirchenbänke waren immer zu hart. Und hatten Ausbuchtungen und Kanten an Stellen, die dem Körper grundsätzlich nicht gut taten und immer schmerzten. Das war bundesweit so, wie es schien. Er vermutete Absicht. Man sollte Gottes Wort aufmerksam verfolgen. Und nicht entspannt wegdösen. Mit seiner Körpergröße hatte er natürlich bei vielen Sitzgelegenheiten Probleme. Aber in Kirchen waren die noch immer um einige Potenzen gesteigert. Man war gezwungen, ganz gerade zu sitzen und sich möglichst nicht zu sehr anzulehnen. Dann ließ sich das noch so eben ertragen.
Würde er sich eben auf andere Dinge konzentrieren. Nicht auf Siggis Beine. Aber auch nicht auf den Gesang und das ganze Geschehen hier. Vielleicht schaffte er das ja wieder, so ein kleines bisschen wegzuduseln. Nicht richtig einschlafen. Gott bewahre! Nur so ein klein wenig zu entspannen. Hatte doch eben auch ganz schön geklappt.
Aus weiter Ferne drangen die Worte des Pastors an sein Ohr: „... Denunziant ... schwacher, böser Mensch ... böse, weil schwach ... schwach, weil böse ...“ ... hatte er schön gegensätzlich formuliert, hätte seinen Deutschlehrer sicher erfreut ... „... nur stark in der Erniedrigung und Verfolgung anderer ... der Erbetene oder der Gefragte ... so weit Saulus ...“
Sein Blick fiel wieder auf Siggis Beine. Schon interessant. Ein richtiger kleiner Urwald war das ja. Da müsste man sich mal verlaufen. Aber nach der Devise: Immer aufwärts!
Jetzt wurde der Pastor wieder dominanter: „... dieser Mensch wird von Gott, wir würden heute sagen: umgedreht ...“ aha, schon damals Gehirnwäsche? ... kurz nach Christi Geburt und Tod? ... „... Umkehr ... Bekehrung ... der gute Mensch ...“ ... hatte der Brecht nicht ein Stück mit gleichem Titel geschrieben? ... der kam noch irgendwoher, der Brechtsche gute Mensch? ... und zwar nicht aus Damaskus oder Tarsus ... „... neuer Mensch ... Zeit des Neuwerdens ... der Kleine, der Winzige, auch der Geringe ... das zu Paulus ...“
Ob er die Siggi mal zu einem Waldspaziergang einladen könnte? Oder vielleicht lieber überhaupt erst einmal näher untersuchen, ob sie eine Nette war. Und ob sie ihn auch nett finden könnte. Und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. War Mädchen gegenüber sowieso nicht seine Art. Eher im Gegenteil. Aber hier im Süddeutschen galten andere Gesetze. Vielleicht. Vielleicht auch für ihn? Er freute sich richtig auf die vierzehn Tage hier. John war nett. Sowieso. Den kannte er ja schon. Sven Philipp war auf jeden Fall nett. Da müsste er noch andere Kategorien finden. Nett traf es nicht genau genug. Kalle und Mikke müsste er noch näher kennen lernen. Von den Mädchen natürlich Manuela. Wenn auch vielleicht eine andere Liga? Da kam er wohl gar nicht ran. Siggi hatte auf jeden Fall etwas. Carola schien Johns Flamme zu sein. Er drückte ihm die Daumen. Sie waren sich noch nie in die Quere gekommen, wenn es um Mädchen ging. Auf der rechten Seite des Vorstellungskreises gestern waren auch noch Mädchen gewesen, die er nicht so recht wahrgenommen hatte, weil er abdriftende Gedanken gehabt hatte. Sein Elternhaus war da das Thema gewesen. Das war aber auch ein Thema. Immerhin: Hier für vierzehn Tage
kein
Thema. Das war doch mal was. Er merkte, wie sich seine Freude im Magen bemerkbar machte. Irgend so ein Geflecht sollte dafür zuständig sein. Das sandte Strahlen oder so aus. Eigentlich wäre ein kleiner Schrei angesagt. Aber er verkniff sich alle sicht- und hörbaren Regungen.
Was erzählte der Herr dort auf der Bühne eigentlich gerade? Der Pastor stand voll im Sonnenlicht. Wenn man den Strahl nach oben in Richtung Kirchenfenster verfolgte, konnte man sehen, wie im Licht unzählige kleine Staubteilchen tanzten. Dass das hier so staubig war? Wurde hier nicht richtig sauber gemacht? Ob das Licht, in dem er dort agierte, den Pastor erleuchtete?
„Zur Zeit sind viele Dinge bei uns hier in der Bundesrepublik aus den Fugen. Wir denken da zum Beispiel an die Ereignisse im Juni in West-Berlin. Aber nicht nur daran. Das Aufbegehren der Jugend will da sorgfältig beobachtet werden. Das kann man nicht einfach abtun und nur sagen:
Die
sollen sich mal benehmen und erst einmal in
unser
Alter kommen! Und wenn es ihnen nicht passt, können sie ja nach
drüben
gehen!
Wir
hier, mit unserer Lebenserfahrung, wissen schon, wie es richtig weitergeht! Da könnte ja
jeder
kommen! Wissen
die
denn überhaupt, wen sie vor sich haben?
Wir
wissen schon, wie’s geht. Und solange
ihr
eure Füße unter
unseren
Tisch setzt ...“
Der Pastor schaute einen Augenblick in die Runde, versuchte mit vielen Augenkontakt aufzunehmen.
Nicht schlecht, der Typ dort auf der Kanzel. Der hatte wirklich was zu sagen. War ja eine Predigt wie maßgeschneidert für seinen Vater.
„Das ist keine angemessene Haltung, liebe Gemeinde. Da muss man doch erst einmal genau hinhören, bevor man sich ein Urteil bildet. Da haben viele etwas zu sagen, was seine Berechtigung hat. Wenn es um neue Wege geht, dann kann es bestimmt nicht nur nach der Parole gehen: Weiter so wie bisher!“
Das Licht schien gewirkt zu haben. War ja spannend, was der Herr dort zu erzählen hatte. Hatte er da vielleicht etwas verpasst bisher? Müsste er nachher einmal Sven Philipp und John befragen. Oder Siggi. Warum nicht Siggi?
„Damit will ich nicht sagen, dass die Aufbegehrenden alle neue kleine Paulusse sind. Aber auf der anderen Seite: Auch zu Zeiten des Saulus-Paulus musste man den Wandel, der da notwendig war, genau beobachten, abwägen, das Sinnvolle vom Überschießenden trennen. Neue Wege sind nie sofort begehbar. Die muss man erst finden. Und dann gehen.
Aber was wir festhalten können, ist,
dass
neue Wege nötig sind. Nicht nur damals vor Damaskus, sondern ganz bestimmt auch heute.“
Also darüber müssten sie mal in der Gruppe diskutieren. Der hatte seine Bibel ja wirklich sehr kräftig gegen den üblichen Strich gelesen.
Er hörte, wie hinter ihm jemand murmelte, dann war ein deutliches „Bemerkenswert!“ zu hören. John also war wach.
Die Kirchenbank zwang ihn zum Positionswechsel. Es war ein Kreuz mit diesen Bänken. Das konnte doch nicht aufmerksamkeitsfördernd sein? Oder sollte man sich immer der Schmerzen Jesu, die dieser auf sich genommen hatte für die Menschheit, bewusst sein? Oder hatte die Kirche einfach nur lausige Tischler und Zimmerleute unter Vertrag? Obwohl dieser Berufsstand doch in der christlichen Kirche eine gewisse Tradition hatte.
Seine rechte Pobacke war eingeschlafen. Fast gefühllos. Gleich würde das Gekribbele beginnen. Er wechselte noch einmal seine Sitzhaltung, beugte sich nach vorne, um die Pobacken zu entlasten, damit das Blut wieder ungehindert Zugang zu allen Regionen dort unten finden konnte.
„Zum Abschluss singen wir gemeinsam die
Nummer einhunderteinundvierzig
,
Evangelisches Kirchengesangbuch, s.o., Nun Gott Lob …, Nr. 141
und zwar alle drei Strophen.“
Die Orgel begann zur Einstimmung mit der Melodie, und die Gemeinde fiel ein. Ohne ihn. Er wollte nicht zum guten Schluss noch für ein Kippen der ganzen Veranstaltung verantwortlich sein. Außerdem fand er den Song nicht so berückend. Die Melodie rührte ihn nicht. Vielleicht wenn man den mal verrockte? Nee, der konnte auch dann bestimmt nicht mit Stones und Co. mithalten. Da sollte man die Kirche mal wirklich im Dorf lassen. Aber eine Orgel wäre eine Bereicherung für ihre Combo. Vielleicht nicht so ein Kirchentrumm. Die Dinger gab es ja auch handlich. Nicht mal so groß wie ein Klavier. Trotzdem bestimmt teuer. Das Geld war überall der begrenzende Faktor. In ihrer Band auf jeden Fall. Sie kamen allesamt aus Elternhäusern, die es nicht so reichlich hatten. Was natürlich den Vorteil hatte, dass sie von ziemlich gleichen Voraussetzungen ausgehen konnten, was ihr Equipment anging.
Alle standen auf. Sie waren wohl zu einem guten Ende gekommen. Noch ein Gebet. Und die Vorstellung war zu Ende. Könnte man ja fast klatschen. Der Herr hatte sich – soweit er das alles richtig verstanden hatte – wirklich angestrengt und seinen Gästen etwas geboten. Ob der HErr das genau so sah? Aber wer konnte das beurteilen? Des HErren Wege und Gedanken waren doch unergründlich. Und wer sollte sich da trauen, die auszumalen?
Darüber musste er schmunzeln. Da es jetzt lauter wurde im Gotteshaus – einzelne Gespräche begannen auf dem Weg der Gemeinde nach draußen, wenn auch noch halblaut und gesittet –, fragte ihn Siggi: „Sag’ mal, warum lachst du, Benno? Über die Predigt? Oder bist du ganz woanders?“ Sie fasste seinen Arm. „Mitunter hat man das Gefühl, du bist gar nicht richtig bei uns oder bei der Sache.“
„Wie kommst du denn darauf, Siggi?“
Er blieb stehen. Und wurde gleich von Kalle, der hinter ihm ging, angerempelt.
„Nee, ich hatte mir das gerade belacht, auf was für unebenem Gestühl man sich hier abquält. Obwohl die Kirche doch in ihrer Geschichte über Zimmerleute verfügt hat.“
Jetzt lachte Siggi auch, und es bildeten sich zwei süße kleine Grübchen links und rechts ihres Mundes. Da sie ihre Lippen öffnete, sah man deutlich, dass sie keine Haare auf den Zähnen hatte.
Sondern nur an den Beinen.