5 – Happy-go-lucky

Marie-Anne war die erste, die ihm über den Weg lief. Und sie sah auch sofort sein frisch erworbenes Mal, das ihr vorhin wohl nicht aufgefallen war.
„Verräter!“, war alles, was ihr dazu einfiel. Das hatte er ja bereits von ihr gehört. War er ein Verräter?
Also hatte er jetzt ein Kainsmal? Oder ein Judaszeichen? Er war da nicht so bibelfest. Und Anders oder Jensen zu fragen, wäre wohl nicht die angemessene Reaktion. „Wenn Sie mal bitte schauen mögen, Herr Anders? Wie wird das noch gleich in der Bibel genannt, Herr Jensen?“ Wahrscheinlich musste er sich eher darum sorgen, dass die beiden Herren das überhaupt zu Gesicht bekamen. War dann seine Heimreise angesagt? Und hochnotpeinliche Fragen seiner Eltern. Die ihn – so schien es – auch mit fast siebzehn noch immer für ein Kind hielten. Aber vielleicht hatte er da jetzt auch nur eine nicht begründete Furcht vor möglichen offiziellen Reaktionen. Würde schon alles gutgehen.
Kalle war der nächste, den er traf.
„Was hast du denn gemacht? Lass’ mich raten!“ Er kam ihm etwas näher, legte seinen Kopf schräg, wie um besser sehen zu können.
„Das war eindeutig ein Heuwender! Der Almbauer hat, als ihr auf der Lichtung gelagert habt – das habt ihr doch, wie man so munkelt? –, sein Heu gewendet. Und da bist du ihm in die Quere gekommen.“
Jetzt lachte er. „Gib’s zu, Benno!“
Er wusste also von der Lichtung. Die Frage war, wie genau er informiert war. Aber schon mal interessant, dass offensichtlich Marie-Anne ihm sofort ihr Herz ausgeschüttet hatte. Mindestens in Teilen. Also war sein Verdacht doch nicht so verkehrt gewesen?
„Ich war übrigens beim Arzt.“ Und dann nach kurzer Pause: „Vielleicht solltest du mit deiner Wunde da auch hin. Ist hier im Ort. Gleich um die Ecke.“ Dann wieder mehr auf ihn konzentriert. Mit geschultem Blick und messerscharfer Diagnose: „Hat die Wunde geblutet? Blutverlust, Blutvergiftung, Fremdkörper in der Wunde, Speichel und Zahnschmelz von der hier ansässigen … ähh, wie hieß die noch gerade? … Lichtungsheumaus … richtig, so hieß die … also von der hier ansässigen Lichtungsheumaus – seltenes Tier übrigens, vom Aussterben bedroht – ...“, er schaute noch einmal genauer, jetzt kamen auch einige andere aus ihrer Gruppe dazu, „hochgefährlich, ... ähh ... ich meine natürlich den Rost vom Heuwender, Benno!“ Er schaute hoch. „Da kommt was zusammen, Benno!“
Jetzt bekam Kalle wohl mit, dass sein Publikum größer wurde. Und er drehte auf. „Also Arztbesuch, Blutabnahme, Tetanusspritze, flexibler Verband, vorher noch Wundsalbe. Mindestens!“
„Hat Benno sich verletzt?“
„Ist es was Ernstes?“
„Seht mal, Benno hat da eine Wunde am Hals!“
„Benno, ist das gefährlich?“
„Tut das weh?“
„Ob du noch Gitarre spielen kannst heute Abend?“
„Wie ist das denn bloß passiert, Benno?“
Das schaukelte sich auf. Und es war deutlich zu merken, dass die alle genau wussten, wovon sie redeten. Manuela hatte also maximale Wirkung erzielt. Worauf sie es wahrscheinlich angelegt hatte. Und Kalle war willfähriger Unterstützer. Na toll! So würde sich das bis zum Abendbrot bei allen herumgesprochen haben. Immerhin: Bei einigen schimmerte deutlich Neid durch. Der Neid der Erlebnislosen, wenn man so wollte.
Vielleicht sollte er sich doch einen Schal umbinden. Allerdings war es wirklich schwül. Aber er würde es mit Würde tragen. Und er würde versuchen, sich so zu verhalten, als sei nichts passiert.
„Ja, nun erzähl’ du doch mal, Kalle. Was sagt der Onkel Doktor?“
Kalle schaltete sofort um und meinte ganz sachlich: „Kräftige Stauchung, fester Verband, kein Sport, Fuß möglichst nicht belasten, keine Bergtouren. Ich darf also morgen nicht mit, wenn wir in die Walachei gehen und kraxeln müssen.“ Er lachte. „Schade, schade, schade. Muss ich wohl hier bleiben. Aber vielleicht kann ich mich ja in der Küche nützlich machen. Mal sehen.“
„Tut mir leid, Kalle“, jetzt ritt ihn der Teufel, „ich glaub’, ich muss auch hier bleiben. Weißte, Blutverlust und so. Du hast das ja eben alles feinsäuberlich aufgelistet. Da kommt was zusammen.“ Jetzt wendete er sich an die um ihn herum Stehenden. „Ihr werdet wohl auf uns verzichten müssen. Was werden wir da morgen bloß anstellen, Kalle?“ Er schaute ihn an. „Vielleicht gehen wir noch einmal auf die Lichtung und knöpfen uns den Almdödel vor? Was meinst du, Kalle? Gefährliche Körperverletzung, Fahrlässigkeit im Umgang mit Mordwerkzeugen, Verseuchung friedliebender Bürger, Angriff auf Leib und Leben. Da kommt was zusammen. Mein lieber Scholli! Dem werden wir auf den Pelz rücken.“
Als die Lästermäuler sahen, dass sie ihn offensichtlich nicht aus der Fassung bringen konnten, verloren sie das Interesse, so dass Kalle und er übrig blieben.
„Und was sagt der Arzt tatsächlich?“
„Du, das war eben leider ernst gemeint. Wirklich ’ne ziemlich heftige Stauchung des Sprunggelenks. Aber das habe ich gestern eigentlich auch gleich gemerkt, dass da was passiert ist. Und heute auf unserer Wanderung ging’s dann wirklich nicht mehr. Also: Ruhe ist angesagt.“
Er zündete sich eine Zigarette an.
„Marie-Anne hat schon gesagt, sie werde auch hier bleiben und mir Gesellschaft leisten. Ist schon mit Jensen abgesprochen.“
Kalle legte seinen Kopf etwas schräg, hob seine Augenbrauen und wartete auf eine Reaktion von ihm. Aber er beherrschte sich und sagte nichts.
„Wir werden etwas in der Küche helfen, damit ihr abends was Nettes zu essen bekommt. Und ansonsten werden wir den Tag genießen. Das Wetter soll so toll bleiben wie in den letzten Tagen. Ja eigentlich seit wir hier sind. Haben wir bisher Schwein gehabt.“
„Stimmt. Haste Recht.“
So vertraut, wie er jetzt mit ihm umging, war eher wahrscheinlich, dass er von Marie-Anne nicht über
alle
Details der Lichtungsereignisse informiert worden war. Dabei würde er es auch belassen. Sollte doch die Marie-Anne reden, wenn sie meinte, das sei nötig.
Dass sie ihn nicht mehr so toll fand, war klar. Und ja auch verständlich.
Wen fand er eigentlich toll?
Komplizierte Frage. Die Marie-Anne war ein ziemlich flotter Feger. Aber die Manuela? Schwierig, schwierig. Vielleicht sollte er sich noch einmal genauer umschauen. Und dem Konflikt, der sich ja doch irgendwie durch das Love-in auf der Lichtung heute Nachmittag gebildet hatte, aus dem Wege gehen.
Der Rückweg war nicht mehr so witzig gewesen. Die Marie-Anne war ja gleich verschwunden. Und kaum war sie weg, tauchten Carola und John auf der Lichtung auf. Sie schmökten noch gemeinsam eine Zigarette. Die beiden sagten nichts über seine Wundmale. Obwohl sie die Stelle bestimmt nicht nur sahen, sondern auch gleich richtig einsortierten. Aber sie waren Kavaliere.
Auf dem Heimweg sprachen sie nicht viel. Carola und John hatten ja vielleicht schöne Erlebnisse gehabt. Vielleicht sogar anstrengende. Auch ein kleines Love-in? Aber dazu gehörten doch sicher immer mehr als nur zwei Personen? Auch mehr als drei? Ganz bestimmt. Aber der Begriff war trotzdem witzig.
Er sagte dann eigentlich gar nichts mehr, hing mehr so seinen Gedanken nach. Manuela versuchte noch einige Male, Stimmung zu erzeugen, was aber nicht mehr klappte. Bis sie dann aufgab. Gesungen wurde auch nicht mehr. Und dann kamen sie irgendwie müde und still im Haus an. Carola und John verdrückten sich sofort irgendwohin. Manuela wollte auf ihr Zimmer. Und er lief gleich Marie-Anne und dann Kalle über den Weg.
„Aber so richtig anständig hast du dich da heute nicht verhalten. Oder was meinst du?“
Da hatte er ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Also wusste er doch mehr?
„Kalle, das war alles ganz anders, als du denkst. Auch anders, als die Marie-Anne das vielleicht mitbekommen hat.“
Er fing an zu schwitzen. Verdammt! In was für Situationen hatte die Manuela ihn da gebracht? Und was erwartete ihn noch? Er merkte, wie die Stelle am Hals brannte.
„Wir sollten da noch einmal in aller Ruhe drüber reden.“
Was erzählte er da jetzt für einen Scheiß? In Ruhe darüber reden? Warum das denn? Und warum ausgerechnet mit Kalle? Die Dinge waren nun einmal, wie sie waren. Basta! Da gab’s gar nichts zu reden. Er könnte sich darauf einstellen, dass zum Abendbrot alle mehr oder weniger Bescheid wüssten. Darauf müsste er sich einstellen. Und dann verbal gut kontern. Im Grunde waren alle, die da etwas anzumerken hatten – was auch immer –, doch im Grunde nur neidisch. Und so war es! Das, was da vor einigen Stunden passiert war, war zwar vielleicht ungewöhnlich. Schmerzhaft für die Marie-Anne. Vielleicht tatsächlich schmerzhaft für sie, wenn sie sich etwas von ihm versprochen hatte. Aber er hatte das alles in vollen Zügen genossen. Und wollte das alles jetzt auf gar keinen Fall missen. So standen die Dinge. „Verdammt noch mal!“
Die letzten Worte hatte er laut gesprochen. Unbeabsichtigt. Aber Kalle verstand sofort. Und konnte sich offensichtlich auch alles andere gut zusammenreimen.
„Ich hätte mich wahrscheinlich gar nicht anders verhalten. Ehrlich. Und vielleicht weiß ich ja noch gar nicht alles so genau, was da passiert ist. Aber die Marie-Anne war ziemlich aufgebracht. Vielleicht sollten wir tatsächlich noch einmal in Ruhe sprechen. Aber lass’ uns jetzt das Thema wechseln.“
Kalle war vielleicht doch Kumpel. Nicht nur, dass er ihn – so schien es wenigstens – verstand. Sondern dann auch noch der umsichtige Blick. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie gleich gar nicht mehr allein waren.
„Na, die Herren? Netten Nachmittag gehabt? Was macht das Gelenk, Karl-Heinz? Was machen die Stones, Benjamin?“
„Ja, wie soll ich sagen? Der Arzt meint, Stauchung des Sprunggelenks. Ruhe ist angesagt.“
„Dann solltest du auf jeden Fall morgen hier bleiben. Und auch kein Tischtennis mehr spielen. Vielleicht stellst du dich darauf ein, dass der Aufenthalt hier für dich ein ruhiger wird? Erholung, Karl-Heinz. Ist doch auch nicht schlecht? Oder was meinst du, Benjamin?“
„Klar, Herr Anders. Hab’ ich dem Kalle auch schon gesagt. Ist doch gar nicht so schlimm, einmal die Tage zu genießen. Ohne immer Aktivität und Bewegung zu veranstalten.“
„Na, siehste mal, Karl-Heinz. Vielleicht solltest du dir vom Benjamin noch ein paar Tipps geben lassen. Der sieht die Dinge doch wohl ganz vernünftig.“
Er sah sie beide an. „Denn man bis zum Abendbrot.“ Was die Stones so machten, wollte er schon gar nicht mehr wissen. War aber wahrscheinlich auch ein anstrengender Job, für neunzehn Jugendliche verantwortlich zu sein, die sich – wie hatte die Manuela das heute noch genannt? – alle schon halberwachsen fühlten.
„Hat er wohl Recht, der Anders. Werd’ ich mich wohl drauf einstellen müssen. Na gut, ich geh’ erst mal nach oben. Mal nach der Marie-Anne sehen. Was machst du so?“
„Ich werd’ wohl in den Gemeinschaftsraum gehen. Und dort ’n bisschen AFN hören. Wann kann man das schon? Bei uns in Walldorf auf jeden Fall nicht. Ihr in Flensburg doch erst recht nicht.“
„Stimmt. Also dann bis zum Abendbrot.“
Er drehte sich um und ging. Dann blieb er noch einmal stehen und meinte, ohne sich nach ihm umzudrehen: „Aber wir bleiben Kumpel.“
Keine Frage, das war eine Feststellung.
Er antwortete nicht.
Im Gemeinschaftsraum war niemand. Ungewöhnlich. Aber schön, denn er hatte jetzt gar keine Lust zu reden. Er ging zum Radio und stellte es an. Für ein öffentliches Haus war das ein tolles Gerät. Ein ziemlich großer Kasten mit zwei seitlich angebrachten Lautsprechern. Richtig Stereo also. Oben ein Plattenspieler eingebaut. Eine Musiktruhe. So hieß so etwas wohl. Diese Radio-Plattenspieler-Einheit stand auf einem Schrank, in dem normalerweise die Platten unterzubringen waren. In diesem Hause – welches ja öffentlich war, das erklärte eigentlich alles, was da unten drin war – nur eine einzige Platte, eine alte verkratzte Dylan-LP. Die so verkratzt war, dass sie niemand mehr mitnehmen mochte. Die hatten sie gleich am ersten Abend mal aufgelegt. Aber es war grauenhaft. Es war gerade noch Dylans Stimme – die ja auch auf unzerkratzten Platten schon immer einen recht zerkratzten Eindruck machte – zu erkennen. Das war’s dann auch schon. Kein Genuss. Wenn der denn bei Dylan – es sei denn, er wurde von den Byrds interpretiert – überhaupt möglich war. Aber das war seine subjektive Meinung, die er an dem Abend, als man noch nicht wusste, was man voneinander zu halten hatte, für sich behalten hatte. Die Dylan-Scheibe war von 65:
Bringing It All Back Home
.
Bob Dylan, Bringing It All Back Home, May65US: Alle drei folgenden Titel auf dieser LP.Mr. Tambourine Man und It's All Over Now, Baby Blue und Subterranean Homesick Blues
Also mit dem Tambourine Man, It’s All Over Now, Baby Blue und dem sagenhaften Subterranean Homesick Blues. Den fand er auch ganz gut. Aber auf der Scheibe konnte man das alles gar nicht mehr erkennen. Obwohl die LP ja man gerade erst zwei Jahre alt war. Nicht pfleglich behandelt. Schallplatten musste man wie rohe Eier handhaben. Nur am Rand anfassen. Und auf keinen Fall mit harten Gegenständen – und seien es nur die Fingernägel – in Berührung kommen lassen. Diese lebensnotwendigen Maßregeln waren hier allesamt missachtet worden. Und deshalb hatte die Platte auch niemanden mehr interessiert. Klare Sache.
Interessant war an der Scheibe, dass Dylan die A-Seite elektrisch spielte. Auf dem Newport-Festival vor zwei Jahren war er dafür ausgebuht worden, ein Jahr später hatten sie ihn sogar Judas genannt. Da hatte er ja was mit Dylan gemein. Die B-Seite – wie er aus dem New Musical Express wusste, hieß die im Fachjargon flip side – war dann wieder ohne Elektrik. Das musste doch Absicht sein, diese Reihenfolge? Keine Entwicklung, sondern Bruch? Irgendwie ja
doch
spannend, die Type. Und was die Byrds mit Dylan veranstalteten, war ja wohl sowieso Weltklasse. Was bestimmt auch an dem tollen musikalischen Material lag. Da gab’s nichts zu diskutieren.
Jetzt waren die Röhren warm, das magische Auge zwinkerte ihm einige Male zu, beruhigte sich und glühte dann vertraut grünlich, AFN war noch eingestellt. Der Sender machte sie alle an. Fast alle. Einige wenige standen nicht auf Rock und Pop. Mitgesungen hatten sie aber alle, als John und er am ersten Abend schon gleich einen kleinen Überblick über das Repertoire ihrer Band gegeben hatten. Und da war keine klassische Musik dabei. Wenigstens nicht im klassischen Sinne. Obwohl sie fast nur Klassiker spielten.
So ganz sauber hörte man AFN auch hier nicht. Lag das an den Bergen in der Umgebung? Dass zwischen ihnen und Heidelberg Hindernisse waren? Aber insgesamt kein Vergleich mit Norddeutschland.
Im Moment spielten sie ein Stück von Sergeant Pepper.
Lucy In The Sky
oder so ähnlich. So genau kannte er die LP noch nicht. War starke Musik. Aber eben nicht mehr die Beatles der frühen Sechziger. Die man noch nachspielen konnte. Das konnte man bei Sergeant Pepper kaum noch. Sie hatten neben When I’m Sixty-Four den Titelsong in ihrem Repertoire. Aber der klang, so wie sie den gaben, eigentlich schon nicht mehr so wie auf der Platte. Aber man erkannte noch, was gemeint war. Und der Erfolg am ersten Abend – vor neuem Publikum – hatte sie bestätigt. Wiedererkannt hatten alle den
Sergeant Pepper
. Die Beatles waren inzwischen musikalisch von einer Haudrauftruppe, dem reinen Rock ’n’ Roll der Anfangsjahre, meilenweit entfernt. Da kam man als Amateur-Band einfach nicht mehr hinterher.
Jetzt die Tremeloes. Den Titel, den der amerikanische Soldat da hinknödelte, verstand er natürlich nicht, könnte aber irgendwie mit bad times, die good waren, zu tun haben. Der Song musste neu sein. Also hatte der Song seine Erstbegegnung mit ihm. Erstbegegnungen waren immer spannend. Wenn die
neue
Stones, die
neue
Burdon, die
neue
Spoonful oder jetzt eben die
neue
Tremeloes aus dem Radio herausplatzte und man noch gar nichts erwartete, ja erwarten konnte, waren das immer heilige Momente. Aber dann natürlich auch die Wiederbegegnungen, wenn sich Melodie, Text, der besondere Gitarrenriff bei ihm schon eingenistet hatten oder er schon Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Song hatte, vielleicht sogar spezielle, dann waren das auch weihevolle Augenblicke. Das wäre doch vermutlich in Jahrzehnten noch genauso. Das konnte doch eigentlich nur noch intensiver werden?
Diesen Tremeloes-Song kannte er noch nicht, aber wenn das der neue Song war, dann hatte er schon etwas über ihn gelesen im New Musical Express. Was ihn so beeindruckt hatte, dass er gleich eine Vokabel nachgeschlagen hatte. Die NME-Leute beschrieben den Song dort nämlich als ein Lied, das sehr gut „party atmosphere“ einfange und eine
„happy-go-lucky ballad“
NME, July 29, 1967, No. 1072, S. 4
sei. Happy-go-lucky hieß „unbekümmert, sorglos, leichtfertig, lässig“. Und das passte perfekt. Ein Teil des Refrains, der, so schien es, in mindestens zweierlei Versionen zu hören war, ging:
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.
Tremeloes, Even The Bad Times Are Good, Feb67UK: Der Refrain, den Benno hier hört,
ist
der Titel.
Das musste einfach der Titel sein, und damit war das dann der neueste Hit der Tremeloes.
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Tremeloes, s.o.: Chip Hawkes und seine Jungs finden, schlimme Zeiten seien wie weggewischt, sobald man mit seinem Liebling zusammen sei, und Küssen sei die angemessene Kur gegen schlimme Zeiten.
Das passte ja mal ganz bestimmt! Sowohl happy-go-lucky-mäßig als auch sowieso. Konnte er bezeugen. Gerade eben erst erlebt. Er hatte eigentlich auch gar kein schlechtes Gewissen, als die Marie-Anne da auf einmal neben ihnen stand. Und ihnen – ja wohl mehr ihm – Vorwürfe machte.
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Tremeloes, s.o.: Die Küsse – und wohl auch die Erinnerung daran – sorgen für die Veränderung der Situation und der Sichtweise. Alles falle leichter. Klare Sache.
Stimmte auffallend.
Ob sich Brian Poole gerade ärgerte, dass er sich von der Combo getrennt hatte? Von dem hörte man gar nichts mehr.
Ein schöner Song. Schien spielbar zu sein. Im Gegensatz zu Lucy eine einfache Harmonie. Wenn er das richtig einschätzte: Tonika, Subdominante, Dominante. Und dann noch der entsprechende Mollakkord. Vier Griffe, und die Welt war erfasst. Bei Lucy waren es locker zehn oder zwölf. Das war ihm noch nicht so ganz klar. Lucys Welt war komplexer. Nannte man das so? Auf jeden Fall komplizierter. Ganz abgesehen von dem Text, soweit er den bisher verstanden hatte. Sehr kraus war der. Rätselhaft.
Aber zurück zum Thema. Eigentlich war der Tag bisher doch auch ein guter. Bisschen aufregend in einigen Teilen. Aber doch eher spannend. Aufregend: Ja doch, aufregend. Das traf es. Schön aufregend. Wenn denn überhaupt bad times, dann trotzdem auf jeden Fall good. Und die Deppen, die sich heute Abend – oder auch jetzt schon – die Mäuler zerrissen, hatten erstens selber schuld und waren zweitens vielleicht ein klein wenig – na, wie sollte er das jetzt nennen? – ein klein wenig missgünstig? Nee, Missgunst war zu hoch gegriffen. Neid hatte er das vorhin genannt. Das traf es besser.
Und wer hatte denn von all den anderen in so kurzer Zeit solch ein schönes Mal? Obwohl es wehtat. Aber die Tremeloes hatten die passende Formel gefunden.
„Na, Benno? Du sollst dich verletzt haben?“
Sven Philipp war – vielleicht angelockt durch die Musik, die er bei dem Tremeloes-Song etwas lauter gedreht hatte – durch die Terrassentür hereingekommen.
„Ja, korrekt. War ’n Heuwender. Hat sich also schon ’rumgesprochen.“
Er grinste Sven Philipp an, der sich die Stelle genau ansah und dann meinte: „Aha, ’n Heuwender?“ Er wiegte seinen Kopf bedächtig. „Stimmt, ’n Heuwender.“ Er schaute noch einmal genauer. „Sieht man deutlich, ’n Heuwender war’s.“
Er drehte sich eine Zigarette.
„Soll ich dir auch eine drehen? Auch mal ’ne richtige Aktive?“
Er gab ihm die fertig gerollte Zigarette, so dass er das Blättchen selbst befeuchten und dann zusammendrücken konnte.
„Marie-Anne oder Manuela? Halt stopp! Lass’ mich raten. Marie-Anne ist für so etwas zu sittsam.“ Er kratzte sich am Kinn. „Aber Manuela. Manuela hat schon diesen leicht flackrigen Blick, wenn sie bestimmte Jungs sieht. Bei dir zum Beispiel. Als wir uns vorgestellt haben, ist mir das sofort aufgefallen. Bei deinem Auftritt war ihr Blick anders als bei meiner kleinen Rede.“
Mit seiner zweiten Zigarette war er jetzt fertig und gab ihm und sich Feuer.
„Leider, leider. Sie ist ’n flotter Käfer. Aber vielleicht etwas unstet? Was meinst du? Hast du da harte Fakten ermitteln können? Die hat doch eindeutig eine sexuelle Ausstrahlung, die Frau. Oder?“
„Ja, könnt’ man so sagen.“ Er schmeckte Sven Philipps Urteil ab. Dem war das also auch aufgefallen. Und zwar von Anfang an. „Stimmt. Sehr sexuell.“ Dann nachdenklich: „Ein Heuwender kann kaum eine größere Wirkung erzielen, vermute ich.“
Sven Philipp trat heute wieder poppig auf. Zu seiner gepunkteten Hose trug er ein knallbuntes Oberhemd, das er über der Hose trug. Rote und gelbe Mohnblüten auf grünlichem Untergrund. Sollte vielleicht eine Wiese oder so etwas darstellen. Um seine Stirn hatte er einen blauen Schal gebunden. Sah nach Seide aus. Die Zigarette in der Spitze. Das war vielleicht etwas affig. Wer rauchte schon Spitze? Aber er war – mit oder ohne Spitze – eindeutig die auffälligste Erscheinung ihrer ganzen Gruppe – da kam selbst Manuelas sexuelle Ausstrahlung kaum mit. Flower Power hieß das wohl in Kalifornien und anderen einschlägigen Kreisen. Jetzt also West Coast-Feeling im südlichen Odenwald.
Sie rauchten und hörten den amerikanischen Soldaten zu.
My Friend Jack
wurde angekündigt. Ein phantastisches Stück. Jetzt hätte er sein Tonbandgerät dabei haben müssen. Obwohl der Song bestimmt schon seit über zwei Monaten auf dem Markt war, hatte er es noch nicht geschafft, eine passable und vor allem vollständige Aufnahme hinzubekommen. Hier mit Ansage in amerikanisch-breitem Slang, das wäre es natürlich gewesen.
„Hast du schon mal sugar lumps probiert, Benno?“
Nee, wahrscheinlich nicht. Er wusste gar nicht so recht, was das sein sollte: sugar lumps?
„Nee, und du?“
„Wenn du dichthältst?“ Er nickte. „Ja, hab’ ich. Marihuana. Als Zigarette, weißt du. Und einmal auch ein Stück Würfelzucker.“
Er drehte sich noch einmal um, wie wenn er sichergehen wollte, dass dieses Geständnis wirklich sonst niemand hörte.
„Ist ’ne scharfe Sache. Kann ich nur empfehlen. Ist für unsereinen aber schwer ’ranzukommen. Erstens steht da unsere Altersgruppe im Wege. Man sieht uns an, dass wir wohl noch ziemlich jung sind. Na ja, und zweitens dann unsere Lebensverhältnisse. Mehr oder weniger dörfliche bis kleinstädtische Wohnsituationen. Da wäre eine Universitätsstadt recht hilfreich. Muss doll sein zu studieren. Nicht nur deswegen natürlich. Aber kommt ja vielleicht bald.“
Also besangen die Smoke da wohl einen Trip. Und Sven Philipp kannte sich da aus, hatte eigene Erfahrungen. Der Name der Truppe war ja vielleicht auch schon Programm.
„Ich denke – so wie ich es euch ja schon bei der Vorstellungsrunde gesagt habe –, ich werde nach den Ferien erst mal in’n Sack hauen. Und die Schulzeit mindestens unterbrechen. Mal so ein bisschen umsehen in der Welt. Einer meiner älteren Brüder wohnt in Paris, eine ebenfalls ältere Schwester in London. Paris oder London könnten dann Ausgangspunkte sein. Hast du auch schon einmal über so etwas nachgedacht?“
Das war ja eine tolle Frage. Klar, hatte er. Aber er hatte sich nie getraut, das auch nur ansatzweise mit seinen Eltern zu besprechen. Nicht mal bei seinem älteren Bruder, der bereits seit einigen Jahren studierte, hatte er sich das getraut. Obwohl sie sich, seit der nicht mehr bei ihnen zu Hause wohnte, besser verstanden denn je.
„Ja, klar“, ganz Weltmann, „klar. Gehört doch vielleicht zu unserer Altersgruppe, sich Zeiten vorzustellen, die durch stärkere Selbständigkeit geprägt sein könnten.“
Na, nun mal nicht zu weltmännisch, sonst baute er da noch eine Geschichte auf, die der Realität nicht standhielt.
„Konkret habe ich das vor den Sommerferien in diesem Jahr überlegt. Genauer: eigentlich schon nach den Osterferien. Als sich nämlich abzeichnete – pardon, ich will gar nicht angeben –, dass ich eine ziemlich bombensichere Zwei in Englisch hatte. Die habe ich auch bis jetzt gehalten. Und das Zeugnis war auch insgesamt nicht schlecht. Ein paar Zweier, einige Dreier. In Sport einen Vierer. Na ja.“
Er drückte seine Zigarette aus.
„Auf jeden Fall habe ich nach den Osterferien das erste Mal den Gedanken gehabt, Austauschschüler zu werden. Unsere Englischlehrerin hatte uns von einem Austauschprogramm mit den USA berichtet. Stell’ dir mal vor: USA! Das hätte ich traumhaft gefunden! Eintrittskarte war mindestens eine Zwei in Englisch. Und ansonsten ein Zeugnis, das mindestens etwas über dem Schnitt liegt. Traf bei mir damals alles zu. Trifft noch immer zu. Aber – und auch das jetzt im Vertrauen – ich habe mich nicht getraut, meinen Eltern mit der Idee überhaupt zu kommen. Das wäre nie etwas geworden. Eng sind die Verhältnisse bei uns zu Hause. Und das ist, seit mein Bruder weg ist, eher schlimmer geworden. Den
Wind
, den der bei Besuchen aus der Uni-Stadt mit zu uns bringt, haben meine Eltern noch immer versucht, abzuwehren und an mir vorbeizuleiten. Was ihnen aber nicht gelungen ist. Das haben sie wohl auch gemerkt. Umso rigider sind sie in ihren Erziehungsvorstellungen geworden. Also das Beispiel meines Bruders ist für mich eher kontraproduktiv gewesen. Bisher. Ich war erstaunt, dass sie mich – ohne zu murren sogar – auf diese Veranstaltung hier gelassen haben. Und wenn die von dem Heuwender-Ereignis Kenntnis hätten, würden sie wahrscheinlich ausflippen. Und die Welt nicht mehr verstehen.“
Jetzt hatte er eigentlich viel mehr gesagt, als er sich vorgenommen hatte – und noch ein paar tolle Fremdwörter eingebaut. Hoffentlich richtig.
Er ging davon aus, dass sein Geständnis bei Sven Philipp in sicheren Händen war.
Bei Manuela wäre er sich da nicht so sicher, ob er sich da zu einem solchen Geständnis hätte durchringen können. Erstens. Und zweitens wäre er sich nicht sicher, ob er sich bei ihr sicher sein könnte, dass sie ihn nicht bei sich bietender Gelegenheit im Regen stehen ließe. Die Dinge also nicht für sich behalten würde.
Das war ja eine interessante Erkenntnis. Quasi als Abfallprodukt dieses Gesprächs.
„Du, das ist bei mir auch nicht ohne Probleme und viel Heulen und Zähneklappen abgegangen. Das kannst du mir glauben. Aber dadurch, dass ich vier ältere Geschwister habe – ich bin ja im Nebenberuf noch Quintus, du erinnerst? –, habe ich durch die vier Älteren profitiert. Die haben sozusagen nolens volens für mich Wege und Möglichkeiten freigeschossen, die ich sonst bestimmt nicht gehabt hätte. Ich schätze mal, meine und deine Eltern werden sich im Prinzip nicht wesentlich unterscheiden. Eine Generation. Irgendwie Anfang des Jahrhunderts geboren. Meine Eltern in den Zehnern.“
„Ja, stimmt. Meine auch. Ich sag’ dir, ich sehne den Augenblick herbei, wenn ich mit der Schule fertig bin. Und dann in die Welt gehe. Das kann ich dir sagen!“
Das rutschte ihm jetzt – so aus vollem Herzen – heraus. Aber der Damm bei ihm war gebrochen. Und Sven Philipp war sympathisch. Sehr sympathisch.
„Weißte, ich genieße unseren Aufenthalt hier in vollen Zügen. Das kann ich dir sagen. Das ist richtig eine Gegenwelt zu den Verhältnissen bei mir zu Hause. Das kann ich dir sagen!“
Das hatte er doch gerade vor zwei Sätzen schon einmal gesagt. Jetzt musste er vielleicht doch etwas aufpassen. Sonst würde er ihm auch noch auf die Nase binden, dass er nicht nur keine Erfahrung mit bestimmten Substanzen hatte, sondern dass er auch noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte. Außer Petting – in verschiedenen Stadien – war da noch nichts gewesen. Der heutige Nachmittag ragte da schon irgendwie heraus. Also so ganz ehrlich bis zum Äußersten wollte er auch dem Sven Philipp gegenüber nicht sein.
„Ich find’s hier auch ganz toll. Nette Leiter, nette Leute, gute Küche, tolles Haus, tolle Umgebung. Was will man mehr? Das mit der Gegenwelt hast du ganz richtig getroffen. Ein schöner Begriff.“
In dem Moment kamen drei Jungs in den Raum, die offensichtlich Karten spielen wollten.
„Komm, wir gehen auf die Terrasse. Ich habe jetzt keine Lust auf Smalltalk.“
Sie gingen nach draußen. Da waren sie wieder allein. Und Sven Philipp machte sofort weiter.
„Also Gegenwelt war das Stichwort. Ich habe ja eben gesagt, ich hätte schon Erfahrungen mit Rauschmitteln. Das stimmt so weit auch.
Eine
Marihuana-Zigarette und
ein
Stück Würfelzucker. Wobei ich gar nicht weiß, was da außer Zucker noch beteiligt war. Es war auf jeden Fall nicht nur Zucker. Der Rausch war doll. Viel intensiver als bei der Zigarette. Die habe ich mehr so wie einen angenehmen, etwas länger andauernden Schwips empfunden. Der Zucker knallte ordentlich ’rein. Alle Wahrnehmungen waren durcheinander. Sehr, sehr spannend. Spannender, als gegen einen Weidezaun zu pinkeln, wenn ich das einmal so formulieren darf. Aber ich glaube, es ist gut, wenn da jemand bei einem ist, wenn man das Zeug ausprobiert.“
Er drehte sich wieder eine Zigarette. Das ging automatisch, fast mit einer Hand. Eben Profi, der Sven Philipp.
„Weißt du, ich muss dir auch etwas gestehen. Für dich ist das Heuwender-Ereignis bestimmt Alltag. So wie du aussiehst. Und dann noch Gitarrist in einer Band. Du hast doch bestimmt schon mal etwas mit einem Mädchen gehabt.“
Das war keine Frage.
Jetzt zündete er sich seine Zigarette an und gab auch ihm Feuer. Er blieb bei seiner Reval.
„Ich meine,
so richtig
etwas gehabt. Meint: mit ihr geschlafen. Das habe ich noch nicht. Und ich habe bald den Eindruck, das klappt auch bei dieser Veranstaltung wieder nicht.“
Das wäre der Moment, in dem auch er hätte ehrlich sein können. Aber er ließ den Satz so stehen. Es fühlte sich eindeutig gut an, diesen Nimbus zu haben. Vielleicht ja nicht nur bei Sven Philipp? Das wilde Band-Leben. Eine klare Sache. Die Zeitungen waren ja voll von solchen Geschichten. Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Genauso eine klare Sache. Da musste man gar nichts erklären. Vielleicht hatte sein Erlebnis heute Nachmittag ja genau mit
dieser Sache
zu tun? Und Johns Geschichte mit Carola – was auch immer bei denen vorging – ja vielleicht auch?
Er würde gespannt auf weitere Ereignisse warten. Nee, nicht warten!
Beschleunigen
müsste er die.
Selber
in Gang setzen. Darauf bauen,
dass
er diesen Nimbus hatte. Mindestens den Nimbus, Mitglied einer wilden Rock-Band zu sein. Nicht-wilde Rock-Bands gab’s schließlich gar nicht.
Wild
und
Rock ’n’ Roll
waren synonym. Und auch das eine klare Sache.
Na, das war ja nun mal eine Erkenntnis. Wunderbar! Daran wollte er in Zukunft häufiger denken.
„Sven Philipp! Benjamin! Kommt ihr bitte? Denkt daran, ihr habt heute Küchendienst! Tischdecken ist angesagt.“
Das war die Köchin Mareike. Eigentlich Frau Johnson. Sehr nett, sehr kompetent und durchsetzungsfähig. Aber vor allem eine gute Köchin. Glücksfall. An das letzte Jahr hatte er diesbezüglich noch sehr zwiespältige Erinnerungen. Mit der Betonung auf
sehr.
„Benno, großes Indianerehrenwort?“
„Klar, Sven Philipp! Großes Indianerehrenwort!“
Sie gaben sich die Hand und gingen hinein.