Sie hatten den Nachmittag zur freien Verfügung und zogen nach dem Mittagessen los.
Zuerst zu sechst. Aber schon nach wenigen Minuten blieb Kalle stehen, sie hatten gerade die erste Weggabelung erreicht.
„Leute, tut mir leid. Ich pack’s heute nicht. Mein Bein tut weh. Und zwar heftig.“
Und nach einer kleinen Pause noch ein deutliches: „Scheiße!“
Gestern hatten sie ein heißes Tischtennisdoppel hingelegt. Kalle und Marie-Anne gegen ihn und Manuela. Die Paarungen hatten sich zufällig ergeben. Sie hatten das Los gezogen. Ein kurzes und drei lange Streichhölzer. Marie-Anne hatte kurz gezogen und durfte sich – so war die Abmachung – ihren Spielpartner aussuchen. Also
doch
nicht der pure Zufall.
Kalle und Marie-Anne hatten sie beide weggeputzt. Besonders Kalle spielte hochklassig. Zu Hause – er kam aus Flensburg – im Verein. War also fast Profi. Da konnte Marie-Anne kaum etwas falsch machen. Die aber sowieso eigentlich gar nichts falsch machte, sondern auch stark spielte. Er selbst war reiner Amateur. In der Schulmannschaft in Walldorf hatte er schon einmal einen kurzen Gastauftritt. Das war aber schon wieder ein Jahr her. Seine Spielpartnerin Manuela war da stärker. Das half aber nicht. Sie wurden in zwei Sätzen geradezu deklassiert: Einundzwanzig zu sieben und einundzwanzig zu dreizehn. Und im zweiten Satz erzielten sie überhaupt nur deshalb ein so schmeichelhaftes Ergebnis, weil Kalle grundsätzlich mit ganzem Körpereinsatz spielte. Und sich dabei dann ein Bein verstauchte oder was auch immer. Es tat wohl höllisch weh. Bis zu dem Zeitpunkt hatten Manuela und er erst fünf Punkte zustande gebracht.
„Also ich pack’s wirklich nicht. Vielleicht muss ich doch noch zum Onkel Doktor. Jensen meinte das ja gestern schon. Werden sie hier doch wohl haben in diesem Kaff. Muss mal die beiden Chefs fragen.“
Er sah sie an, zögerte noch, sah Marie-Anne an, die aber keine Anstalten machte, mit ihm zusammen umzukehren. Wohl doch eher eine zufällige Tischtennispartnerschaft. Ob Kalle sich wirklich ausmalte, dass Marie-Anne ihn zurückbegleiten würde? War ja vielleicht auch nur seine Interpretation des Blicks, den Kalle etwas länger auf Marie-Anne ruhen ließ. Aber was hieß schon
etwas länger
?
Marie-Anne schien sich aber doch angesprochen zu fühlen, denn sie sagte: „Wenn ihr nichts dagegen habt, komme ich mit euch vieren mit. Ich brauche ein bisschen Bewegung.“ Zur Begründung noch: „Ich glaube, ich habe ein bisschen zu viel gegessen.“ Und zu Kalle: „Aber du packst das doch auch allein? Bist doch schon ein großer Jung.“
Kalle lächelte Marie-Anne an. Lief da doch etwas zwischen den beiden?
„Okay, ich geh’.“ Und im Umdrehen: „Mit Binnenreim geht sich’s leichter heim. Wir sehen uns zum Kaffee?“
„Oder zum Abendbrot spätestens.“ Das war John. Der mit Carola Händchen hielt. Aber das war schnell klar gewesen, dass die beiden sich mochten.
„Tschüß, du Süßer!“ Das war Manuela. Er schloss sich an: „Bis nachher, Kalle. Wenn du zum Arzt musst, beiß’ die Zähne zusammen. Ich drück’ dir die Daumen.“
„Mach’s gut. Wir denken an dich.“ Jetzt drehte sich auch Marie-Anne zum Weitergehen um. Und als er sich nach einigen Schritten noch einmal nach Kalle umsah, war der schon hinter einer Biegung des Weges verschwunden und nicht mehr zu sehen.
Einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinander.
„Wollen wir was singen?“, fragte Manuela auf einmal, „wie wär’s mit
When I’m Sixty-Four
von Sergeant Pepper? Das kennen Benno und John. Schließlich habt ihr das gleich am ersten Abend gespielt. Und wir drei Girls hören uns ein. Was haltet ihr davon?“
Sie blieben stehen und sahen sich an.
„John sagt ein-, zwei-, dreimal den Text auf. Benno kann ihn sowieso. Wir lernen schnell. Los, kommt! Seid keine Spielverderber! When I’m Sixty-Four von fünf Halberwachsenen im deutschen Wald. Das ist doch ’ne tolle Konstellation. Müsste man doch direkt zum Patent anmelden.“
Manuela wirkte überzeugend, Marie-Anne und Carola fielen ein: „Los, John! Los, Benno!“
John legte eine kleine Kunstpause ein: „Also, Girls. Da muss ich mir erst einmal eine anstecken. Was meinst du, Benno? Die drei Süßen sind bemerkenswert anstrengend, oder?“
Er reichte seine Schachtel im Kreise herum. Alle bedienten sich. Nach dem Anzünden fing John an, den Text aufzusagen. Schon gleich im richtigen Rhythmus. Beim zweiten und dritten Mal verfiel er in einen leichten Sprechgesang, musste dann aber doch feststellen, dass er etwas zu hoch gerutscht war.
Das Intro summten sie beide, dann startete John:
„
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
“Beatles, When I’m Sixty-Four, s.o.: Die Fab Four machen sich Gedanken darüber, was passierte, wenn sie – was zu diesem Zeitpunkt weder für die Beatles noch für die 5 im Wald zutrifft, – älter wären und z. B. keine Haare mehr hätten. Also alles Überlegungen, eine ferne, ferne Zukunft betreffend. Fast gar nicht vorstellbar. Paul, der Sänger, ist man gerade eben 25 geworden. Und die 5 im Wald sind noch einmal sehr deutlich jünger.
Entgegen dem Original sangen sie von Anfang an alle mit und marschierten tänzelnd im Takt des Songs, der dazu herausforderte, sich zu bewegen. Die drei Mädchen herrlich jubelnd hoch, John so wie immer und er eine Oktave tiefer. Es gab gute Gründe, warum er bei ihren Auftritten kein Mikro vor sich stehen hatte. Seine Stimme war halt „sehr begrenzt“, so nannten seine Kollegen das, und es gab nur wenige Stücke in ihrem Repertoire, bei denen er mitsingen durfte. When I’m Sixty-Four gehörte im Allgemeinen nicht dazu. Aber im Wald galten andere Gesetze. Er sang aus voller Brust mit. Und fühlte sich richtig wohl. Das war ein schöner Tag heute. Jetzt im Moment wunderschön. Auch wenn das Wetter nicht ganz mitspielte. Es war unwahrscheinlich schwül, und man konnte noch nicht so richtig sagen, ob es nicht doch regnen oder vielleicht sogar ein Gewitter geben würde.
Als sie einmal durch waren, meinte Manuela: „So, Jungs, das war die Pflicht. Jetzt kommt die Kür. Das Ganze noch einmal von vorn!“
Sie klatschten, und John fing erneut an. Bei diesem Durchgang sang er nicht mit, sondern imitierte nur McCartneys Bass. Die Basslinie war recht einfach, und er brummte die Bassbegleitung immer mit einem lauten „Dumm“ oder „Dumm-Dumm“ oder auch „Du-Dumm“. Er war da flexibel, und es entsprach dann schon fast dem Original.
Der zweite Durchgang gelang ihnen „sehr zufriedenstellend!“, wie sie fanden. Laut und mehrstimmig tanzten und hüpften sie in den Wald hinein.
„Was meint ihr, kriegen wir noch was anderes hin? Was meint ihr? Denkt mal nach, Benno und John. Ihr seid doch die Profis.“
John überlegte kurz. „Benno, was hältst du von den
Good Times
?
Da darfst du doch bemerkenswerterweise immer mitsingen. Den Text müsstest du also auch kennen, oder?“
„Klar, kein Problem. Und wo sich’s anbietet, mach’ ich wieder den Dumm-Dumm-Bass. Aber sag’ erst mal dein Gedicht auf. Ist doch bald Weihnachten, John. Tannenbäume gibt’s hier doch schon einige.“
„Also gut, Girls, passt schön auf! Ich sag’s wieder dreimal. Dann sollte es klappen!“
Er griff sich Carolas Hand. Mit seiner linken Hand machte er, während er den Text – wiederum rhythmisierend – aufsagte, dirigierende Bewegungen.
Als sie anfingen, nahmen Manuela und Marie-Anne ihn in ihre Mitte. Sie fassten sich bei den Händen, Manuela nahm jetzt noch Johns freie Hand, so dass sie eine bunte Reihe bildeten. Was hier gut ging, da der Weg breit genug war.
Jetzt gelang ihnen schon der erste Durchgang „außerordentlich bemerkenswert!“. Das war auch einfach ein wunderbares Stones-Stück. Das ließ sich gut mit aller Inbrunst singen. Der Text war gut, die Melodie ebenfalls. Kaum komplizierte Schnörkel. Die Mädchen konnten gut mitsingen. Und auch hier – wenngleich das Stück weniger rhythmisch war – tänzelten sie.
„
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
“Rolling Stones, Good Times, s.o.: Mick und seine Freunde fordern ihre Zuhörer auf, in die Puschen zu kommen und sich zu amüsieren, und zwar möglichst die ganze Nacht. Dann ja vielleicht auch am Tag
vor
der Nacht?
Seine Hände waren etwas verschwitzt. Lag bestimmt an der Schwüle. War ihm trotzdem peinlich. Aber loslassen mochte er nicht. Auf keinen Fall. Er merkte seinen Pulsschlag. Hoffentlich bekam er keinen Kloß im Hals. An jeder Hand ein Mädchen – das war ja mal was.
Manuela schien das nicht weiter zu berühren. Sie machte einen ganz abgeklärten, souveränen Eindruck. Wie wenn sie eine solche Reihe nicht das erste Mal erlebte. Sein erster Eindruck vom Tag ihrer Ankunft hatte bisher nicht getrogen. Sie machte einen irgendwie älteren Eindruck. Was eigentlich nicht an den wenigen Monaten, die sie tatsächlich älter war, liegen konnte.
Bei Marie-Anne war er sich nicht so sicher, ob sie nicht vielleicht auch etwas nervös war.
Als sie die Good Times zweimal besungen hatten, wollten sie erst einmal eine Gesangspause einlegen. Zumal die tänzelnde Fortbewegung anstrengend war bei der Schwüle.
Ihr Weg führte über eine Lichtung, die den Blick aus dem Wald heraus auf das Tal öffnete. Sie stellten fest, dass sie ein ganzes Stück oberhalb ihrer Unterkunft waren. Man sah – noch relativ nah – den Ort Waldtal. Der zwar Waldtal hieß, aber waldfrei war. Dafür von Wald umgeben. Das Heim konnten sie von hier aus nicht mehr sehen. Aber im Hintergrund, weiter entfernt, die beiden Nachbarorte. Der Himmel bezog sich irgendwie, obwohl noch immer die Sonne schien. Das Tal lag in einem bläulich-weißen Dunstschleier, während sie hier oben noch Sonne hatten. Die Gewitterwolken, wenn es denn welche gab, mussten sich auf der anderen Seite des Berges aufhalten. Noch sah der Himmel – bis auf den Dunst im Tal – klar aus.
„Lasst uns mal eine kleine Pause einlegen. Wir können uns doch hier auf der Lichtung ein bisschen ins Gras legen.“
„Ja, macht man“, meinte John, „Carola und ich gehen noch etwas weiter. Wir sind nicht so schlaff wie ihr drei. Oder was meinst du, Carola?“
So wie die beiden sich ansahen, war klar, dass sie nur auf eine Möglichkeit gewartet hatten, endlich allein zu sein. Rock-Musik im Wald und das sogar mehrstimmig war ja gut und schön, aber da gab es ja noch andere Dinge als mehrstimmigen Gesang. Zweistimmigen zum Beispiel.
Das dachten die beiden wohl auch. Sie zogen beschwingt von dannen, drehten sich, bevor sie wieder im Wald verschwanden, noch einmal um und winkten ihnen zu.
Die Lichtung war gestern oder vorgestern gemäht worden, und das Gras lag, so wie es gefallen war, zum Trocknen. Sie nahmen sich jeder einige Arme voll und bereiteten sich an einer Stelle, die etwas stärkeres Gefälle hatte, so dass man sehr gut ins Tal sehen konnte, ein großes Lager. Der Boden war trocken und hart, so dass sie doch noch mehr Gras brauchten. Es duftete würzig. Irgendwelche Kräuter schienen mit von der Partie zu sein. Er kannte von Ferienaufenthalten bei seinem Onkel auf einem Bauernhof den Geruch von Heu. Auch wenn es immer ein klein wenig anders roch, je nachdem wie trocken es war, ob es der erste oder zweite Schnitt war, ob die Wiese eher grün oder doch eher bunt gewesen war und so weiter und so weiter, auch wenn er sich also durchaus ein bisschen auskannte, so war der Duft dieser Lichtung doch ganz eigenartig. Vielleicht gab es hier spezielle Kräuter, die, während sie trockneten, diesen Duft verströmten. Er fühlte sich fast ein wenig benebelt, als er sich hinlegte.
Es ergab sich, dass die beiden Mädchen ihn in die Mitte nahmen. Links neben ihm Manuela, rechts Marie-Anne. Und da sie mit ihrem Lager doch recht knapp kalkuliert hatten, lagen sie eng nebeneinander. Aufregender Körperkontakt. Vielleicht fühlte er sich deshalb so benebelt? In seinen Ohren summte es. Das waren nicht nur die Bienen und Hummeln, die sich – wahrscheinlich vergeblich – an den trocknenden Blüten zu schaffen machten. Er hatte noch keine Erfahrung mit Rauschmitteln wie Marihuana oder so, aber so ähnlich fühlte sich das bestimmt an. Anders auf jeden Fall als bei einem Schwips. Das Gefühl kannte er schon. Aber dies hier war anders. Ganz anders.
Er beobachtete eine Hummel, die sich an einer Blüte, die wie eine weiße Taubnessel aussah, zu schaffen machte. Wenn man die Blüten einer Taubnessel abzupfte und an dem Röhrchen sog, hatte man einen süßlichen Geschmack auf der Zunge. Wohl der Stoff, der die Hummel anzog. Der Stoff der Hummelträume sozusagen. Und obwohl diese Blüte schon etwas angetrocknet aussah, gelang es der Hummel trotzdem, ihren Rüssel im Blütenkelch zu versenken. Ob sie dort auf ihre Kosten kam? Irgendetwas hielt sie auf jeden Fall dort fest. Der Blütenboden war wohl noch nicht durchgetrocknet.
Nachdem Manuela zuerst noch vor sich hingesummt hatte – klang irgendwie nach den Good Times, war ja aber auch ein Spitzen-Song –, wurde sie auf einmal ganz ruhig, und man hörte nur noch ihren gleichmäßigen Atem. Und nach kurzer Zeit ein ganz leises Schnarchen. Sie war eingeschlafen, und ihr Mund hatte sich geöffnet. Das erklärte die Geräusche.
Im Hintergrund hämmerte ein Specht. Der musste sich in einem der Bäume hinter ihnen aufhalten. Die Hummeln summten, die Baumkronen rauschten sacht. Er hatte das Gefühl, er vibriere im Einklang mit diesen Naturgeräuschen.
„Hörst du, Manuela schnarcht ganz süß?“, flüsterte er. Marie-Anne nickte, sagte aber nichts. Sie atmete nicht so ruhig wie Manuela. Er schon gleich gar nicht. Schlafen hätte er jetzt nicht können. Dazu war er viel zu aufgeregt.
Good Vibrations
– genau! – Good Vibrations. Da gab es – gleich zu Beginn – eine Textzeile, in der von Gerüchen die Rede war:
„
.
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
“Beach Boys, Good Vibrations, s.o.: Die Großfamilie Wilson singt eine Hymne auf den Duft der Frauen, der – bei günstiger Windrichtung (so wie hier im Moment) – betörend wirken könne.
Das passte. Marie-Anne roch toll. Fruchtig. Er kannte den Geruch. Blumig traf es besser als fruchtig. Hett de Deern Undjekolundje opleggt vundaag? Seine Oma hatte eine feine Nase. Und recht hätte sie gehabt mit dieser Feststellung. Aber ihm fiel nicht ein, was für eine Blume das war. Zu fragen traute er sich nicht. Manuela hatte eher kein Parfum aufgelegt. Hatte sie bisher wenigstens noch nicht. Und heute auch nicht. Zu ihr passte Parfum irgendwie nicht. So burschikos, wie sie sich gab. Sie roch eher nach Schweiß. Auch aufregend. Sogar sehr aufregend.
Er merkte, dass Marie-Anne irgendetwas suchte. Sie fummelte zwischen ihnen beiden im Gras. Als ihre Hände sich berührten, hatte sie offensichtlich gefunden, was sie suchte. Sie griff seine Hand, drückte sie und ließ sie dann nicht wieder los. Er atmete langsamer und versuchte, gar keine Geräusche mehr zu machen.
Manuela schnarchte jetzt gleichmäßig. Der Specht hatte auch noch zu tun. Die Hummel war mit der nächsten Blüte beschäftigt. Sah nach Klee aus. Und auch dort schien sie noch fündig zu werden. Das Rauschen der Baumkronen wurde inzwischen von seinen Pulsgeräuschen übertönt, die er deutlich in seinen Ohren hörte. Da waren ganze Ströme unterwegs. So schien es. Wohin nur?
Good Vibrations.
Marie-Anne drehte sich auf die Seite und sah ihn an. Sie griff sich einen Grashalm und kitzelte ihn am Kinn. Ganz sacht. Jetzt ließ sie seine Hand los, stützte sich auf ihren Arm, griff wieder seine Hand. Und sah ihn weiter an.
Dann beugte sie ihren Kopf über seinen und sah ihm in die Augen. Und gab ihm einen schnellen Kuss auf seine Nasenspitze. Sollte er jetzt aktiv werden? Er war etwas verwirrt. So hatte er sich die Entwicklung heute nicht vorgestellt. Und dass Manuela neben ihnen schnarchte, irritierte ihn.
Als Marie-Anne sich gerade wieder von ihm wegbewegen wollte, griff er sie mit beiden Händen, so dass sie fast ganz auf ihm lag.
Manuela schnarchte weiter.
Er presste seine Lippen auf ihre. Ein trockener Kuss. Und irgendwie nicht richtig gezielt.
Der Specht hämmerte, sein Herz auch.
Marie-Anne gluckste und flüsterte: „Pass auf, Benno, so geht’s besser.“
Sie drehte ihren Kopf etwas, so dass ihre Nasen sich nicht mehr im Wege standen, und drückte ihre Lippen auf seine. Dann öffnete sie ihre Lippen und spielte mit ihrer Zunge an seinen Lippen. Bis auch er seinen Mund öffnete, so dass sie sich treffen konnten. Sie schmeckte gut. Auch irgendwie blumig. Und der Geruch war Maiglöckchen. Eindeutig. Sie ließen kurz voneinander ab, sahen sich an und lachten. Marie-Anne legte ihren Finger auf ihren Mund, dann auf seinen. Sie sah kurz zu Manuela, die aber noch immer weit weg war. Und beugte sich dann wieder über ihn. Als sie ihn erneut küsste – diesmal gleich richtig –, streichelte sie mit ihrer Hand über seinen Oberschenkel. Was die pulsierenden Geräusche in seinen Ohren nur noch steigerte. Obwohl das Blut jetzt eindeutig woanders gebraucht wurde. Das musste sie doch bestimmt gemerkt haben, so wie sie auf ihm lag? War das nun peinlich? Nee, eigentlich nicht, eher natürlich. Er merkte Aktivität in seiner Hose. Hoffentlich sah sie hier keiner. Auch wenn Carola und John jetzt zurückkämen, wäre ihm das unangenehm. Oder wenn Manuela auf einmal aufwachte.
Je mehr er merkte, dass ihn Marie-Annes Küsse überall aufregten, und je mehr Marie-Anne merkte, dass sie ihn aufregte, desto leidenschaftlicher wurden sie. Hummeln, Specht, Blätter, Geruch, pieksende Grashalme – alles eins.
Und alles wurde übertönt.
Marie-Anne fuhr ganz kess mit ihrer Hand über die Wölbung seiner Hose.
Das war spannend. Sehr spannend.
Ermutigt griff er zwischen ihre Beine.
Sofort drehte sie sich weg.
Und legte sich neben ihn.
Ganz sittsam.
Von hundertachtzig auf null.
Wie wenn nichts gewesen wäre.
War er zu weit gegangen? Aber sie hatte ihn doch auch dort berührt, wo die eigentliche Sexualität erst begann? Jenseits aller Küssereien?
Er versuchte ruhiger zu atmen, griff wieder ihre Hand. Was sie geschehen ließ. Specht, Hummel und Co. konnte er wieder klar unterscheiden.
Vielleicht war er – im Gegensatz zu ihren Berührungen an seiner Männlichkeit – zu grob oder zu forsch gewesen? Aber das konnte er jetzt natürlich schlecht fragen oder gar diskutieren. Dann wäre Manuela spätestens wach. Aber vielleicht konnte man das sowieso gar nicht fragen? Sondern das musste sich entwickeln. Organisch sozusagen. Ging ja schließlich auch um Organe. Also vielleicht bei einem nächsten Mal. Gab es ein nächstes Mal? Vielleicht ja nicht? Da musste er sich wohl etwas gedulden.
Er konzentrierte sich jetzt auf den Specht. Der hatte heute aber viel zu tun. Suchte der eine Bude? Oder was zu fressen? Was machte eigentlich die Hummel? So, wie er lag, sah er keine Hummeln. Er hörte sie aber. Marie-Anne atmete jetzt wieder gleichmäßiger und streichelte seine Hand. Was sie jetzt wohl dachte? Auch daran, dass es jetzt nur noch ein kleiner Schritt gewesen wäre? Dass ihr
das
Angst gemacht hatte? Vielleicht war sie ja noch
unberührt
?
Was für ein Ausdruck. Aber
Jungfrau
war auch nicht besser. Mannomannomann, war das alles kompliziert! Aber schon eine heiße Nummer. Sie beide hier auf der Lichtung. Kurz vorm Koitus. Na ja,
relativ
kurz vorm Koitus. Und Manuela pennte seelenruhig neben ihnen. Das könnte man ja keinem erzählen. Und glauben würde es eh keiner. Also würde er das auch keinem erzählen. Wenigstens erst mal. Obwohl’s ja eigentlich eine Geschichte wert wäre.
Jetzt sah er – mehr so aus den Augenwinkeln – wieder eine Hummel. Oberhalb Marie-Annes Kopf war sie in einer Blüte zugange. Die ging eindeutig weiter als sie beide eben.
„Benno?“
Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und sah sie an.
„Sagst du das bitte keinem?“
Sie sprach sehr leise, und als er etwas fragend guckte, sagte sie: „Das mit uns beiden und so?“ Was meinte sie wohl mit
und so
? Dass sie geknutscht hatten? Dass sie zu weit gegangen waren? Oder eben gerade nicht weit genug? Letzteres würde seiner Meinung entsprechen. Aber sie dachte sicherlich an Frage eins oder zwei.
„Klar, geht in Ordnung, Anne.“ Er grinste sie an. „War aber schön, oder?“
Sie nickte. Wie ihm schien, heftig.
Und nach einer kleinen Pause: „Wartest du auf mich? Ich muss mal eben in die Büsche.“
Und jetzt ganz verschämt: „Pipi machen.“
Er nickte. Wohin sollte er jetzt schon verschwinden?
Sie stand vorsichtig auf und ging in Richtung Waldrand. Er sah ihr hinterher. Sie sah wirklich gut aus. Groß, schlank, gute Figur, tolle Beine, sportlich – wenigstens sportliche Waden, aber sie war ja auch Leichtathletin, obschon er das in der Vorstellungsrunde nicht so ganz mitbekommen hatte –, kurze blonde Haare, kurz und wuschelig – müsste er bei Gelegenheit mal wuscheln –, trotz der sportlichen Waden und trotz des unebenen Geländes hier auf dieser so friedlichen Lichtung ein anmutiger Gang, wie sie da jetzt Richtung Waldrand ging.
Marie-Anne.
Warum nicht Marie-Anne?
„Na, Benno? Träumst du? Vielleicht sogar von der Marie-Anne?“
Sie war wach. Erst jetzt? Oder schon länger? Die ganze Zeit? Dass sie das Schnarchen nur vorgetäuscht hatte?
„Ich zeig’ dir jetzt mal, wie man küsst.“ Und damit drehte sie sich voll zu ihm, legte ein Bein über ihn, griff mit ihren Händen seine, drückte die auf den Boden und kam ihm mit ihrem Gesicht ganz nah.
„Weißt du, ich hab’ mir gleich am ersten Abend überlegt, wie ich es anstelle, dass wir beide einmal allein sind. Du warst mir da mit deinen vielen Versprechern und den vielen Alsos in deiner Vorstellungsrede sofort aufgefallen.“
Eigentlich sah sie noch ganz friedlich aus. Sie grinste. Jetzt setzte sie sich rittlings auf ihn. Und drückte noch immer seine Hände auf den Boden. Sollte er es auf eine Kraftprobe ankommen lassen? Die würde er gewinnen. Oder sollte er sie gewähren lassen? Und sehen, wie die Dinge sich entwickelten. Sie entwickelten sich ja. War ja alles sehr spannend im Moment.
„Voilà, Benno. Kaum drei Tage hier – und wir sind allein.“
Sie ruckelte mit ihrem Hintern hin und her.
„Die kleine Braut da eben. Das kannst du doch nicht ernst meinen? Oder?“
Aber sie wollte keine Antwort, sondern beugte jetzt ihr Gesicht über seines.
„Das war ja eben ganz süß, was ihr da veranstaltet habt. Natürlich nur, soweit ich das überhaupt mitbekommen habe. Ihr wart mitunter so leise, dass ich nicht alles verstanden habe. Aber geredet habt ihr ja auch nicht so viel. Die hat nicht so viel zu sagen, die Marie-Anne. Nicht wahr?“
Sie wartete. Was sollte er da sagen? Dass er Marie-Anne ganz bezaubernd fand? Aber sie auch? Und das vom ersten Augenblick an? Das wäre ja die Wahrheit.
„Du sagst ja gar nichts? Sonst hast du doch immer was zu sagen. Und zwar nicht nur, wenn ihr beiden spielt und singt.“
Sie ruckelte wieder etwas hin und her. Bei ihm gab es sofort eine Reaktion. Die Gegend dort unten war ja man gerade erst zur Ruhe gekommen.
„Du sagst ja noch immer nichts. Vielleicht magst du das ja nicht, dass ich oben bin?“
Sie taxierte ihn.
„Nee, genau das magst du, glaube ich. Stimmt’s?“
Jetzt kam sie näher und öffnete ihre Lippen. Bei ihr gab es kein Kussvorspiel so wie eben. Ihre Zähne taten ihm weh. Auf seinen Lippen, auf seiner Zunge. Ihr Schoß rieb gegen sein Glied. Das musste sie doch merken. Was sie wohl nur weiter stimulierte?
Plötzlich ließ sie ab von ihm. Setzte sich aufrecht, rieb weiter mit ihrem Schoß über seine empfindlichen Teile, sah ihn an, lächelte, beugte sich wieder über ihn. Dabei knurrte sie. Oder stöhnte sie? Dann legte sie ihren Kopf neben seinen, wie wenn sie ihm etwas ins Ohr flüstern wollte. Und biss ihm kräftig in den Hals. Er schrie auf und kam mit seinem Kopf hoch. Mehr ging nicht, ihr Körpergewicht hielt ihn am Boden, aber eine Hand bekam er frei. Da war bestimmt Blut geflossen. Und der Biss musste ihn deutlich oberhalb des Hemdkragens getroffen haben. Schals waren in dieser Jahreszeit eher nicht angesagt. Er rieb sich über die Bissstelle und sah auf seine Hand. Die sah aus wie immer. Wohl doch kein Blut. Eigentlich konnte er kein Blut sehen. Weder seins noch das von anderen. Auch nicht im Fernsehen oder im Kino. Hier bleib er ganz ruhig. Aber es war ja auch gar kein Blut geflossen.
„Benno, du machst mich an. Weißt du das?“
„Ja, Manuela, ja!“ Er stöhnte unter ihrem Gewicht. „Ich glaub’s!“, er versuchte sich unter ihr wegzudrehen. „Und habe jetzt wahrscheinlich sogar den unübersehbaren Beweis dafür. Mannomannomann, was denkst du dir dabei?“
Mein Gott, was für einen Unsinn redete er da? Das war doch eher so etwas wie ein Liebesbeweis – na ja, Leidenschaftsbeweis. Und ihm fiel nichts anderes ein, als „Mannomannomann“ zu sagen. Das war ja nun hundertprozentig Westküste. Watt. Flaches Land. Kein turtelnder Liebesdialog. Verdammte Scheiße!
„Aber du küsst wirklich gut.“
Das war ja nun wohl noch bekloppter! Weltmann! Komm’ in die Puschen!
„Weißt du was?“
Er befreite sich aus ihrem Pressgriff und nahm ihren Kopf in seine Hände.
„Weißt du, auch ich habe dich von Anfang an beobachtet. Als wir auf die Zimmerverteilung warteten. John fragte mich nachher, als wir auf unsere Bude gingen, ob mir die „kleine Blonde“ – so sagte er, glaube ich – aufgefallen sei. Und ich konnte da nur feststellen, dass ich nur Augen für dich gehabt habe.“
Er zog sie zu sich herunter und küsste sie wieder.
„Aber mich gar nicht getraut habe, daran zu denken, dass das mit uns was werden könnte. Weil ich dich schon für so alt gehalten habe.“
Er gab ihr noch einen Kuss.
„Und ältere Mädchen geben sich ja nicht so gerne mit jüngeren Jungs ab. Du wirst das ja kennen. Oder?“
Jetzt sah sie ihn ganz offen an und nickte.
„Aber heute mache ich eine Ausnahme.“
Sie küsste ihn lang und zärtlich, ganz ohne Aggression. Allerdings mochte sie nicht ganz still sitzen. Und er genoss es.
Das Leben war doch schön!
Wunderschön war das Leben!
So war das Leben schön!
„Mensch, Benjamin, du bist ein Schwein! Ja wirklich! Ein Schweinehund bist du!“
Marie-Anne stand auf einmal neben ihnen. Wie aus dem Heuhaufen gewachsen. Und sah wütend auf sie herab. Die hatte er überhaupt nicht mehr auf der Rechnung gehabt. Ob Manuela sie bemerkt hatte? Und trotzdem weitergemacht hatte?
„Dir hat das gerade eben wohl gar nichts bedeutet? Obwohl du das ja behauptet hast! Nämlich
dass
es dir was bedeutet hat.“
Sie stampfte mit dem Fuß auf.
„Und dieser Schlampe, die da auf dir liegt, ist nichts heilig! Kaum waren wir eingezogen am Sonnabend, da meinte sie, wir sollten doch mal auf die Jungsbuden gehen und schauen, ob da nicht was aufzureißen sei. Genau so hat sie sich geäußert. Und nun hat sie wohl was aufgerissen.“
Sie stupste mit ihrem Fuß gegen seinen Oberschenkel.
„Nämlich dich.“
Noch ein Stupser. Oder war das schon ein Fußtritt?
„Nämlich dich!“ Erneuter Stupser. „Du Verräter!“
Sie drehte sich um und ging. Kam aber noch einmal zurück.
„Wir werden uns in den nächsten Tagen noch häufig sehen. Das wird sich nicht vermeiden lassen. Und ich fahre bestimmt nicht vorzeitig ab. Deinetwegen schon gar nicht! Aber du bist Luft für mich! Ab jetzt!“
Sie wartete einen kleinen Moment. Sollte er jetzt antworten? Was?
„Ist das klar?“
Jetzt wartete sie keine Antwort mehr ab – was sollte er da auch sagen? –, drehte sich wieder um und ging.
Mit anmutig-stolzem Gang über die Lichtung.
„Na, die hat ja Power, die Frau. Was meinst du, Benno?“
Auch jetzt wusste er nichts zu antworten. Also sagte er erst einmal nichts. Sah nur Manuela an. Was war sie für eine? Eine, die er mögen könnte? Oder war sie immer so, wie sie sich gerade gezeigt hatte? Irgendwie ja doch hinterhältig. Ein klein wenig. Oder nur burschikos? Oder einfach nur scharf auf ihn? Das würde ihm natürlich schmeicheln, wenn das die Lösung wäre. Aber er hatte das Gefühl, dass man sich bei Manuela nicht sicher sein konnte.
Aber überwältigt hatte sie ihn. Und es war ihm eigentlich auch gar nicht peinlich, dass sie das ganze „Marie-Anne-Vorspiel“ höchstwahrscheinlich mitgekriegt hatte. Nee, eigentlich sogar im Gegenteil. Das hatte sie ja erst scharf gemacht. Oder überschätzte er sich da jetzt etwas? Und noch eine Frage, die ihn brennend interessierte: War das jetzt eigentlich gerade ein Love-in gewesen?
„Komm’, lass’ uns eine schmöken. Gib mal ’ne Aktive aus. Nicht diesen seichten Saucentabak, den Johns Marke da bietet.“
Sie lachte ihn frech an. Er zückte seine Reval-Schachtel.
„
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
“Rolling Stones, Good Times, s.o.: Benno fühlt sich gerade jetzt so toll wie schon lange nicht mehr. Wenigstens soweit er sich erinnern kann. Und vielleicht – so denkt er wohl – wird er sich nie wieder so gut fühlen. Na, abwarten. Die Stones auf jeden Fall drücken seine Stimmung hier sehr präzise aus. Festzustellen bleibt, dass Benno mit seiner Einschätzung vom Beginn dieser kleinen Geschichte wohl einen Treffer gelandet hat.
Die Stones trafen doch den Nagel auf den Kopf. Was sollte er sich da noch Gedanken machen? Marie-Anne – okay, okay. Aber
sie
war doch eine andere Liga. Hatte er doch sofort gewusst.
Eine höhere sozusagen.
Und
irgendwie sexuell
.
Der Specht hämmerte.