Den Abend konnte er noch gar nicht fassen. Ausnahmezustand! Er hatte mit Julia geschlafen! Sein erstes Mal! Und er hatte nicht versagt! Wäre ja durchaus möglich gewesen. War ja schließlich schon irgendwie nervenaufreibend. Und dann so unerwartet. „Benno, ich hab’ da mal ’ne Frage.“ „Nur zu, Julia!“ Das glaubte einem doch keiner. Und so schön war’s gewesen. Wenigstens für ihn. Ob auch für sie, war nicht so richtig klar geworden. Aber das Leben war schön! Wunderschön! Da sollte mal jemand was Anderes behaupten. Der sollte ihm mal in die Quere kommen. Dem würde er eine verpassen. Aber kräftig. Er hatte seine lange Reichweite auf seiner Seite. Im Sportunterricht hatten sie mal geboxt. Dabei kam ihm zupass, dass er ein Riese war. Dementsprechend lang waren seine Arme. Und dass er Rechtsausleger war. Damit kamen die meisten nicht klar. Besonders natürlich die Rechtshänder. In seiner Klasse waren außer ihm alle Rechtshänder. Hier sicher auch. Da sollte ihm also jetzt mal einer quer kommen. Er hatte die ganze Mannesstärke auf seiner Seite. Neuerdings. Aktuell sozusagen. Die
ganze
!
Plus Reichweite. Plus Rechtsauslage. Da konnte man nur noch Herr im Ring sein. Also wo waren seine Gegner? Die sollten mal aus ihren Löchern kommen.
„
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“Lovin’ Spoonful, Daydream, Feb66US: John Sebastian und seine Combo finden die Worte: Was für ein traumhafter Tag, was für ein Tag für einen Träumer, der von den wunderschönsten Dingen träumt. Die ja gar kein Traum gewesen sind. Gutes Timing von AFN. Musik und Leben sind synchronisiert.
Guter Sender AFN! Der Song zu seiner Stimmung. Perfekt abgepasst hatten das die Jungs aus Heidelberg.
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“Lovin’ Spoonful, s.o.: Und John Sebastian stellt fest, dass dieser Tag für einen Spaziergang geeignet sei. Ein Spaziergang also.
Stimmte auffallend. So war’s gewesen. Die Gegend hier war gut für einen walk outside. Konnte er inzwischen bestätigen. Empirisch sozusagen. Oder wie hieß das?
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“Lovin’ Spoonful, s.o.: Dann das Versprechen, dass dieser Traum sich bis in die Nacht hinein erstrecken werde. Wenn man es denn richtig anstelle. Benno scheint bereit.
Aber klar. Das wollte er wohl mal hoffen, dass sich die Dinge so verhielten. Der Abend konnte doch eigentlich nur gut werden. Was hieß hier gut? Oberscharf konnte der doch nur werden. War er bisher doch schon gewesen. Und war er noch immer.
Er musste noch seine Gitarre holen. Ohne die ging’s natürlich nicht.
Auf dem Weg nach oben lief er Sven Philipp über den Weg.
„Benno, du siehst so aufgeräumt aus. Gibt’s was Besonderes?“
„Ja, Sven Philipp! Sowieso! Genau! Ich bin gut drauf. War heut’ ein guter Tag. Kann fast nicht mehr besser werden.“
„Was ist los? Sugar lumps? Oder was ist heute angesagt?“
„Ja, könnte man so sagen. Im Wald lief einer ’rum, der hat die Dinger angeboten. Haben wir einige zu uns genommen. Aber ich muss weiter. Hab’ mein Instrument vergessen.“ Und als er einen Schritt weiter war, drehte er sich um: „Obwohl ich das ja eigentlich immer dabei hab’.“ Wobei er dann so kichern musste, dass er vorsichtshalber Sven Philipp lieber erst einmal ratlos stehen ließ. Bevor er sich noch verplapperte.
Er hörte noch, wie Sven Philipp ihm „Wer ist wir?“ hinterher rief, da war er aber auch schon vor seinem Zimmer angekommen.
John war noch nicht da. Unten hatte er ihn auch nicht gesehen. Julia und er waren rechtzeitig zurück gewesen. Und da im Gemeinschaftsraum sozusagen der Teufel los war – Tischeschieben, Stühlerücken, Einrichtung der Musikanlage, das Ganze garniert mit schlauen Kommentaren derjenigen, die immer alles besser wussten –, fiel es überhaupt nicht auf, dass sie beide gemeinsam ins Haus kamen. Dort trennten sie sich. Julia meinte, sie müsse noch einmal kurz auf ihr Zimmer und dann ins Bad, um sich etwas frisch zu machen. Er fand auch, dass er eigentlich eine „Komplettsanierung“ bräuchte. Die Hose hatte doch etwas gelitten bei ihrer kleinen Veranstaltung eben. Und insgesamt wäre eine Dusche nicht schlecht. Aber das würde auffallen.
John und Carola waren dann wohl noch unterwegs. Und Julia hatte ganz bestimmt Recht, wenn sie meinte, die beiden hätten etwas miteinander.
Aber die würden schon noch an den Laden kommen.
Bevor er seine Gitarre griff, wechselte er noch seine Jeans. Glücklicherweise hatte er – auf Anraten seiner Mutter – eine zweite eingepackt. „Man weiß doch nie, Benjamin. Vielleicht kommt ihr einmal in einen Regen. Oder du kleckerst einmal beim Mittagessen.“ An Waldbodenflecken, die man sich im Unterholz zuziehen konnte, hatte sie nicht gedacht. Er ja auch nicht.
Und wenn er sich schon nicht duschte oder wusch, nahm er wenigstens noch etwas Deo und einige Tropfen Rasierwasser. Damit er sich etwas frischer fühlte.
Dann verließ er mit Gitarre das Zimmer.
Und lief vor der Tür John in die Arme.
„Sag’ mal, John! Wo bleibt ihr?“
John sah ihn irritiert an.
„Wurden wir schon vermisst? Ist irgendetwas los? Sollten wir schon spielen?“
„Nee, nee, dreimal nee.“
„Dann mach’ nicht so’n Wind, Benno.“
Er sah ihn noch einmal genauer an.
„Ist irgendetwas passiert? Du bist so aufgekratzt. Hab’ ich was verpasst?“
„Nee, alles im grünen Bereich. Mach’ dich man frisch. Und vergiss dann deine Gitarre nicht.“
Dann ritt ihn der Teufel und er flüsterte John ins Ohr: „Sag’ mal, habt ihr etwas miteinander? Ich meine die Carola und du?“
John zögerte etwas und lachte dann.
„Ist schon okay. Du musst gar nicht antworten.“
„Sag’ mal, Benno, spinnst du? Gib mir den Code, unter dem ich dich peilen kann. Oder wechsle die Frequenz. Irgendetwas ist doch los mit dir.“
„Nee, nee. Bin nur gut drauf. Das ist alles.“
Er griff sich seine Gitarre und schlug einen Akkord an. Er entschied sich spontan für Eb-Dur, aber mit der großen Septime. Das haute so allerdings nicht hin. Eigentlich hatten Durakkorde mit großer Septime etwas Strahlendhelles, zugleich Schwebendweiches. Im Gegensatz zu Durakkorden mit kleiner Septime. Die schwebten nicht, sondern zielten eher auf etwas hin, waren also spannend. Dieser Akkord strahlte eindeutig nicht. Seine Gitarre war wohl nicht mehr gestimmt. Das musste es sein. So war eher ein Missklang zu hören. Obwohl – schwebend war der schon. Schwebend zwischen etwas schräg und eindeutig schief. Also das funktionierte nur bei einem stimmigen Instrument. War ja klar.
„Benno, hast du was genommen? Irgendwelche Substanzen?“
Und dann mit leiserer Stimme: „Gibt’s hier irgendwo so etwas? Vielleicht sogar im Ort?“
„Nee. Schon wieder: Nee. Ich habe nichts genommen. Und ob es hier etwas gibt, weiß ich nicht. Wär’ aber schon scharf, oder? Wäre doch die Zeit danach. Ich meine nicht nur hier und jetzt. Sondern dieses ganze Jahr ist doch irgendwie aus den Fugen, oder? Und das weltweit. Soweit man das beurteilen kann. Findste nicht?“
Damit hätte er ihn erst einmal vom Thema abgelenkt. Hoffte er. So zwischen Tür und Angel wollte er mit John nicht so ein intimes Gespräch vom Zaun brechen. Also würde er sich jetzt etwas drosseln. Runter vom Gas, Overdrive ’raus und einen Gang ’runterschalten. Fertig.
„Hast du schon einmal Substanzen zu dir genommen?“
Unsinnige Frage! Die Antwort kannte er schon. Sie hatten das Thema Drogen schon mehrfach durchdekliniert. In Walldorf. Und – fast musste man sagen: natürlich – hatte John da genauso viele Erfahrungen wie er selbst.
„Benno, das weißt du doch.“ John sah ihn wieder prüfend an. „Irgendetwas ist mit dir los.“
Jetzt musterte er ihn von oben bis unten.
„Dein Hemd hat Flecken an beiden Ellenbogen“, er ging um ihn herum, „und auf dem Rücken. Bist du gestürzt im Wald?“
John überlegte kurz.
„Du hast was mit der Julia!“ Jedes einzelne Wort betonend. „Wir waren doch zu viert losgezogen. Und dann bliebt ihr beide zurück.“
Jetzt grinste er breit.
„Das ist es, Benno! Ich hab’s! Toll! Die Julia ist doch eine Nette. Oder?“
Er nickte. Ertappt.
„Puste das man nicht so hinaus in die Welt, John. Muss ja nicht jeder wissen, wo die Flecken herkommen. Aber du hast Recht. Das ist schon sehr auffällig. Werden die unten eben auch gesehen haben? Vermutlich. Werd’ ich wohl noch das Hemd wechseln müssen.“
Er lachte.
„Die Hose hab’ ich schon gewechselt. Muss morgen wohl mal einen Waschtag einlegen. Oder mal Mareike fragen. Vielleicht gibt’s ’ne Waschmaschine im Haus. Obwohl ...“, er überlegte kurz, „das vielleicht gar keine so gute Idee ist. Das könnte sich dann ’rumsprechen, dass Benno große Wäsche hat. Was meinst du?“
John grinste und wiederholte nur, er solle sich man noch ein neues Hemd spendieren. So lange würde er warten. Und dann könnten sie ja gemeinsam hinuntergehen. Nach dem Motto: Die Band kommt. Das war dann schon eine kleine Inszenierung.
Und darauf war John genauso scharf wie er.
Sie begannen ihre Auftritte häufig mit
Moonshot
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Den Titel spielten sie, solange ihre Band – die Heartbeats – existierte. Das waren jetzt schon gut zwei Jahre. Im Frühjahr 65 war John eines Tages mit seiner Gitarre bei ihm aufgekreuzt, was an sich nicht ungewöhnlich war. Die Stones hatten gerade mit
The Last Time
die Charts getoppt. Und John meinte, ob sie nicht einmal versuchen sollten, diesen „sagenhaften Stones-Titel“ nachzuspielen. Das könne doch so schwer nicht sein. Was es auch nicht war. Und an dem Tag war der Entschluss gefallen, nicht immer „mal wieder“ Musik zu machen, sondern „zielgerichtet“. Ihnen fielen auch gleich einige weitere „mögliche Kandidaten zur Komplettierung einer Band“ ein. Schlagzeug und Bass waren in Gedanken schnell besetzt. Später kam dann noch eine Rhythmus-Gitarre dazu. John stand für „vocals and guitar“, er allerhöchstens für „background-vocal“, dafür aber für die „lead guitar“. So war der Plan. Und es klappte dann auch recht schnell. Und hielt bis heute. Und sie waren tatsächlich ziemlich fix immer besser geworden. So dass sie inzwischen schon auf Klassenfesten und sogar auch auf zwei Schulfesten gespielt hatten. Sie warteten noch auf den internationalen künstlerischen Durchbruch. Und natürlich auf den kommerziellen Erfolg.
Musikalischer Chef ihrer Band, so hatte ihn John ja in der Vorstellungsrunde am ersten Abend bezeichnet, war er nicht. Lead guitar ja, aber Chef war John. Wobei der Chef-Titel zu gar nichts nütze war. Nur im Zusammenspiel funktionierte Musik ja. Grundsätzlich war das so. Bei ihnen natürlich auch. Und da war die Rhythmus-Gitarre genauso wichtig wie das Schlagzeug oder die Solo-Gitarre. Da wollte er die Kirche mal im Dorf lassen.
Trotzdem war das an dem Abend ein feiner Zug von John gewesen, ihm so zur Seite zu springen.
Moonshot hatten sie noch immer im Programm, und den Titel spielten sie auch heute Abend. Fünf Stücke sollten sie zum Besten geben. Dann würde auf Jensens Uher – wieder verstärkt über das hauseigene Radio – umgeschaltet werden. Und es durfte getanzt werden.
Hoffentlich war Julia bis dahin wieder unten. Die hatte sich bisher noch nicht blicken lassen. Sehr eigenartig fand er das.
Moonshot gelang ihnen gut. Das war dann schon ein hübscher Einstieg. Schließlich war er die ganze Zeit als lead guitar gefordert. Der Abend konnte nur gut werden. Nach der Vorgeschichte ja sowieso. Da gab’s doch überhaupt keinen Zweifel.
Sven Philipp griff sich einen Stuhl und hämmerte – ganz vorsichtig, aber hörbar – mit zwei Kochlöffeln, die er sich offensichtlich aus der Küche besorgt hatte, auf die Sitzfläche. Er hatte Taktgefühl.
Für die nächsten vier Titel hatten sie sogar die Texte dabei. John hatte ihre gesamte Kollektion aus Walldorf in den südlichen Odenwald mitgenommen. Zwar handschriftlich, aber in Schönschrift. Und bei dem nächsten Stück wollten sich Manuela und Siggi – die wohnten also nicht nur zusammen – als „vocal“ versuchen. Im Original sangen John und Paul:
Slow Down
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Ein Stück, bei dem man beschleunigen konnte. Kontrapunktisch zum Titel, hätte ihr Musiklehrer sicher gesagt. Astreiner Rock ’n’ Roll. Und er hatte wieder viel zu tun. Intro und Solo und Schluss-Formel, die im Original von George Martin auf dem Klavier gespielt wurden, waren sein Part auf der Gitarre. Manuela und Siggi drehten richtig auf. Die übertönten glatt John. Das Stück kam rockig. Von Sven Philipp an den Sitzflächendrums unterstützt.
Und da das so gut klappte, blieben Manuela und Siggi gleich hinter den Texten sitzen, und Sven Philipp hinter seinem Schlagzeug:
Bye, Bye Johnny
von den Stones. Nach seinem Gitarren-Intro kam noch Carola zur Verstärkung der beiden Sängerinnen dazu. Sie war ja die Rock-Fanatikerin, wenn er sich richtig erinnerte. Wenigstens tanztechnisch, so hatte sie das in der Vorstellungsrunde doch gesagt. Weibliche Stimmen kamen gut bei dem Stück. Vielleicht sollten sie in ihrer Band mal überlegen, ob sie nicht eine weibliche Stimme als Verstärkung gebrauchen könnten.
Julia war noch immer nicht da. Ob er, wenn sie hier fertig waren, mal hochgehen sollte? Oder erst mal Jensen fragen? Ob der was wusste? Oder Mareike? Dass die „so von Frau zu Frau“ etwas gehört hatte.
Jetzt ging es langsamer zu:
The Young Ones
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Auch da war seine Gitarre wieder gefragt. Gesanglich eher etwas für eine Solostimme. Aber die drei Girls waren wieder eine wunderbare Verstärkung. Sven Philipp erneut taktsicher. Manuela mit einer sehr dreckigen Stimme, was eigentlich besser zu den beiden letzten Stücken passte. Carola sehr weich. Siggi konnte offensichtlich auch singen, Carola und sie sehr stimmig bei dem Cliff-Song.
Siggis Frisur war wieder perfekt gezirkelt. Wie sich so ein Bubikopf wohl anfühlte? Sie sah wirklich toll aus. Die Augen strahlten. Trotz der inzwischen erfreulich schummrigen Beleuchtung gut zu erkennen. Manuela hatte dieses besondere sexuelle Etwas. Ihre Stimme unterstrich das. Ihr Blick sowieso. Der war ja das erste Signal gewesen, das ihm aufgefallen war. Siggi hatte demgegenüber so etwas Reines, oder wie sollte er das nennen? Dass ausgerechnet die beiden ein Zimmer bewohnten? Quasi als Kontrastprogramm? Obwohl rein auch irgendwie nicht richtig war. Sie hatte auch eine heiße sexuelle Ausstrahlung. Aber eben ganz anders als die Manuela. Da müsste er noch einen Augenblick überlegen. Sie sah auf jeden Fall scharf aus. Und ihre Beine waren ja wohl ein Thema für sich. Ausgesprochen spannend.
Schon ihr letztes Stück fürs erste:
You Better Move On
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Rolling Stones, You Better Move On, Jan64UK: Ein wundervoller Song. Wie überhaupt die Stones in den Sixties eine Klasse für sich sind.
Unbedingt unter seinen Stones-Top-Five. Überhaupt keine Diskussion. Vielleicht sogar unter den Stones-Top-Three? Er schwankte da mitunter in seinen Chart-Notierungen. Ein sehr, sehr schöner Song. Zum Tanzen geeignet, was die ersten Paare jetzt auch machten. Der Abend konnte gut werden. Vielleicht würden sie im weiteren Verlauf ja noch einmal diesen oder jenen Song abliefern. Nur auf Publikumswunsch natürlich. Aber er wollte auch tanzen.
Unbedingt!
Unbedingt mit der Julia.
Wo blieb die nur?