2 – Vorgestellt

„Ja, also ... ähh ... also ...“
Mist, verdammter! Er müsste jetzt doch wohl einen einigermaßen geraden Satz herausbringen!
„Also, pardon, ich hab’ mich gerade etwas verschluckt. Also: ich bin Benjamin Larsen. Aber meine Freunde dürfen mich Benno nennen. Oder einfach Ben.“
Was konnte man noch sagen? Er war der erste, der in dieser Vorstellungsrunde dran war.
„Also ich komme aus Schleswig-Holstein. So wie mein Nachbar zu meiner Linken – aber der wird sich ja gleich selbst vorstellen. Schleswig-Holstein also. Genauer: aus Walldorf in Schleswig-Holstein. Das liegt an der Westküste. Also an der Nordsee. Wasser also nur zweimal am Tag. Ansonsten ist Ebbe. Also Watt. Also kein Wasser.“
Mein Gott! Wie viele
Alsos
– war das jetzt der richtige Plural? – wollte er noch einbauen in seine Rede? Die Schule, Hobbys, das Alter. Richtig. Das Alter.
„Also ich besuche in Walldorf die WGS. Das steht für Walldorfer Gelehrtenschule. Vierhundertundeinpaarzerquetschte Jahre alt.“
Er überlegte kurz.
„Richtig: Alter.
Mein
Alter. Also ich bin fünfzehn und spiele ganz gerne, wie vielleicht einige von euch schon gesehen haben, Gitarre. Wie mein Kollege zu meiner Linken. Aber der wird das sicher noch genauer ausführen.“
Mann! Das war doch alles Scheiße, was er hier erzählte. Riesengroße Scheiße. Gequirlte. Vielleicht nicht das
Was
. Aber das
Wie
auf jeden Fall. Mein Gott! Den durfte er doch wohl einmal anrufen? War ja schließlich eine christliche Organisation, mit der sie hier unterwegs waren.
Schluss jetzt!
„Also ich übergebe mal an meinen Nachbarn zur Linken.“
Der Auftritt war ja nun wirklich alles andere als lässig. Was eigentlich sein Ziel gewesen war. Nämlich lässig aufzutreten. Ganz fest hatte er sich das vorgenommen. Aber das war noch, bevor er
sie
gesehen hatte. Die jetzt ja noch gar nicht dran gewesen war. Und die er höchstwahrscheinlich nach diesem Auftritt komplett streichen konnte.
Er schwitzte. Und lehnte sich erst einmal zurück. Jetzt sollte John sich äußern. Er wäre erst einmal aus dem Rennen. Vielleicht sogar für längere Zeit? Und das gleich bei einigen?
„Na ja“, das war jetzt der eine der beiden Leiter, „Benjamin“, der sah ihn direkt an, „ich glaube, wenn ich so auf meine Liste schaue, musst du dich da eben etwas vertan haben. Hier steht eindeutig, dass du sechzehn bist. Und nicht nur das“, jetzt machte Anders eine fast geheimnisvolle Pause, „du bist, wenn wir das richtig ermittelt haben, in einer guten Woche schon nicht mehr sechzehn, sondern ...“, wieder eine Pause, „siebzehn.“ Und jetzt noch eine Pause. Das wurde ja immer peinlicher. Jetzt hatte er sein Alter falsch angegeben. Und wurde öffentlich korrigiert. Das war ja nun ganz bestimmt nicht lässig. Er schwitzte heftiger. Bestimmt sichtbar. Mannomannomann! Gottsverdori! Hörte er seine Oma sagen, mit dem angeliterschen ‚Ch‘ für das ‚G‘. Der Satz ging dann, wenn sie ihn aus einer kniffligen Situation wieder herausholen wollte, weiter: Gottsverdori un dor Kantüffeln to, dat is ok een Mahltied, awers ’n dröge een. Wo bekam er hier so schnell Kartoffeln her? Und ob das in dieser Situation wirklich half?
„Hört alle genau zu: Benjamin wird am Montag in einer Woche siebzehn. Und damit ist er der einzige von uns allen, der während unserer gemeinsamen Freizeit Geburtstag hat.“
Als einige klatschen wollten, sagte Anders ganz schnell: „Halt! Stopp! Zu früh gratulieren bringt keinen Segen. Wir warten noch einige Tage. Und dann sehen wir, was uns zu deinem Geburtstag so alles einfällt, Benjamin. Aber nun machen wir erst einmal weiter in der Reihenfolge. Dschonn“, er sprach den Namen natürlich falsch aus, aber das wäre für John gleich ein guter Ansatzpunkt für seine Vorstellung, „Dschonn, mach du bitte weiter.“
„Nicht Dschonn, sondern mit normalem Jot und langem O, bitte. Pardon, wenn ich Sie korrigieren muss, Herr Anders. Aber der Wahrheit die Ehre. Meine Eltern meinten, ich sei ein John.“
Jetzt übertrieben korrekt von ihm so ausgesprochen, wie er es gerne hatte. Mitunter konnte man den Verdacht haben, dass John nur deshalb so ein Gewese um seinen Namen machte, damit er immer eine Spur mehr Aufmerksamkeit bei seinen Zuhörern hatte. Die hatte er so garantiert. Nach diesem Vorspiel sowieso. „Diese beiden Speziellen aus Walldorf an der Westküste“ würden sich allen anderen bestimmt einprägen. Vielleicht würden die sogar denken, sie hätten das so verabredet. Das wäre immerhin noch die weniger peinliche Variante.
„Gut. John heiße ich, komme auch aus Walldorf. Aus diesen altehrwürdigen Mauern. Gleiche Schule wie Benjamin. Ich sage übrigens Benno zu ihm. Auch wenn ihm, so scheint es mir, ein knappes Ben lieber ist. Aber ich soll über mich sprechen. John, sechzehn Jahre alt. Gerade erst sechzehn geworden. Damit also fast ein ganzes Jahr jünger als mein rechter Nachbar.“
John machte eine kleine Pause und schaute seinen Nachbarn zur Rechten an. Sie waren schon länger befreundet und spielten seit zwei Jahren gemeinsam in einer Band, deren Chef John war. Und zwischen ihnen hatte es bisher eigentlich immer recht gut geklappt.
„Gitarre spiel’ ich auch sehr gerne. Hab’ mit Benno und noch drei anderen Kumpels aus Walldorf eine Band. Eine Rock-Band, um genau zu sein. Deren Chef ich bin.“ Er machte eine kurze Pause. „Deren musikalischer Chef allerdings Benno ist.“ Er drehte sich zu ihm und zeigte mit beiden Händen – Handflächen nach oben – auf ihn.
Das war ein feiner Zug von John, ihn so aus seiner Bredouille zu holen. Dafür hatte er einen gut bei ihm.
„Ja, was noch zu mir? Vielleicht – aber das ist ja schon in der Information über unsere Gitarrenbegeisterung enthalten – vielleicht noch die Information, dass ich, dass wir beide Rock- und Pop-Musik über alles lieben.“
Schon wieder hatte er ihn mit einbezogen. Das war doch mal eine Vorstellung. Warum war ihm das nicht eingefallen? Und dann noch immer der Verweis auf ihn. Das war doch fast schon souverän. John teilte die Aufmerksamkeit – und um die ging es doch bei einer solchen Vorstellung – mit ihm. Das hatte was. Keine Frage.
Alle anderen sahen das wohl ähnlich. Einige klatschten. Wahrscheinlich die Rock-Fans. Er würde John ein Bier spendieren. Mindestens eins. Vielleicht in der Kneipe im Dorf. Die hatte doch ganz nett ausgesehen. Und gemütlich. Vielleicht könnten sie da ja einmal gemeinsam hingehen. Vielleicht in Begleitung von einigen Schönen?
„Ich hoffe, ihr liebt Rock und Pop, dann kann das hier ganz lustig werden. Wir werden auf jeden Fall unser Bestes geben.“ Er blickte ihn an. „Oder Benno?“
„Auf jeden Fall, John. Vielleicht finden wir unter uns noch einen Sänger?“ Er machte eine kleine Pause, damit die anderen schon einmal in sich gehen konnten. „Oder eine Sängerin?“ Wieder eine kleine Pause. „Dann wären wir schon fast komplett.“ Er blickte in die Runde, deren Aufmerksamkeit er jetzt hatte. „Nur für die Drums müsste uns dann noch etwas einfallen. Aber man wird sehen.“
Na, es ging doch. War ja fast schon weltläufig zu nennen, sein zweiter Ansatz jetzt. Wenn er sich konzentrierte, ging’s doch. Warum nicht gleich so?
„Okay, Benno. Seh’ ich genauso. Man wird sehen.“ John drehte sich nach links um. „Jetzt übergebe ich das Mikro, ... ähh ... das Wort an meinen linken Nachbarn.“
Der war ein echter Spezi – oder wie sagte man hier im oberdeutschen Sprachraum? Sehr lässig auf jeden Fall. Schulterlanges, lockiges blondes Haar, das durch ein buntes Stirnband gehalten wurde. Das fiel einem als erstes auf. War ihm schon gleich bei der Ankunft, als sie auf die Verteilung der Zimmer gewartet hatten, aufgefallen. Neben
ihr
und den beiden Leitern die einzige Person, die er hätte näher beschreiben können. Sehr schmal war er. Sah zart, ja, verletzlich aus. Hatte einen ruhigen Blick. Schrill-bunt gepunktete blaue Hose, verwaschener Rollkragenpullover, Zigarettenspitze – bestimmt zwanzig Zentimeter lang. Aus einer Hosentasche ragte eine längliche Zigarettentabaktasche heraus. Selbstdreher also. Breiter Hosengürtel mit noch breiterem rundem Schloss. Am schärfsten aber der Blick: sanft und irgendwie friedlich. Der Typ wirkte, bevor er überhaupt angefangen hatte sich vorzustellen.
„Ja, danke, John“, jetzt wandte er sich von John dem ganzen Kreis zu. „Das hast du gut gesagt, dass das hier mit uns lustig werden kann. Also meine Stimme ist nicht toll. Aber ihr als Profis könnt mich ja einmal testen. Ich bin bereit.“
Seine Stimme entsprach seinem Blick: ruhig und sanft.
Jetzt mit Nachdruck: „Aber nun zu mir.“ Er konnte modulieren.
„Ich heiße Sven Philipp Quintus ...“, er machte eine Pause – für die Lacher –, und so wie er seinen Namen präsentierte, war klar, dass er diese Inszenierung nicht zum ersten Mal so machte, „ja, ihr habt euch nicht verhört. Quintus, mein dritter Vorname.“ Er schaute breit grinsend in die Runde. Wieder mit einer Pause. „Quintus, so haben sich meine Eltern gedacht, heißt der Fünfte. Im Lateinischen. Und ich bin der Fünfte.“
Während er seinen Redebeitrag begonnen hatte, war er parallel mit dem Drehen einer Zigarette gestartet. Die Zigarette war gerollt, das Blättchen wurde jetzt von ihm mit der Zunge leicht befeuchtet und dann zusammengedrückt.
„Der Fünfte in der Reihenfolge meiner Geschwister. Ich habe vier ältere und auch vier jüngere Geschwister.“
Als einige lachten, meinte Sven Philipp, während er sich seine Zigarette, nachdem er sie vorsichtig in die Spitze gedrückt hatte, anzündete und sich auch noch die Zeit nahm, einen ersten Zug zu genießen: „Genau, ich finde das auch lustig. Habe ich schon immer gefunden. Und ihr könnt euch sicherlich vorstellen, dass mir das schon häufiger passiert ist, dass andere das lustig finden.“ Jetzt schaute er wieder in die Runde. „Denn wo muss man sich nicht überall vorstellen? Es vergeht ja fast kein Tag, an dem nicht Quintus meinen Weg kreuzt. Aber meine Eltern wollten wohl gerne den Überblick behalten.“
Jetzt lachte er. Mit allen anderen.
„Ja, nun einmal etwas substantieller zu meiner Person: Ich bin – wie John – auch erst gerade sechzehn geworden. Komme auch aus Schleswig-Holstein. Von der Insel Sylt. Also auch Nordsee. Also nicht immer Wasser. Wenigstens nicht an allen Stränden der Insel. Aber mindestens immer Watt. Dafür auch einige tolle Sandstrände.“ Er drehte sich zu ihnen beiden um: „Das können die beiden Jungs aus Walldorf nicht von sich behaupten. Nämlich dass sie an ihrer Küste Strand hätten. So richtig mit Sand und so.“
Er nahm einen Zug.
„Was noch?“ Wieder ein Zug. Also Kunstpause.
„Na ja, eigentlich das Wesentliche.“
Auf seinem Stuhl rückte er etwas nach vorne und griff sich seinen Parka, den er über die Lehne gelegt hatte. Fummelte etwas herum, bis er, was er suchte, gefunden hatte.
Auf dem Rücken war – übergroß, bestimmt über zwanzig Zentimeter im Durchmesser – das Friedenszeichen aufgenäht.
„Wie ihr seht, bin ich gegen Krieg, atomare Bewaffnung und Aggression. Heißt es doch inzwischen weltweit: Music, Love, Flowers, and Happiness.“
Jetzt zeigte er auf seinen Parka. „Dieses Zeichen hier steht für ’Campaign for Nuclear Disarmament’. Die Zeichnung ist die Vereinigung der Buchstaben CND im sogenannten Winkeralphabet der Marine. Seit 1958 offizielles Symbol der Ostermarschierer. Und heute ja zum Beispiel auch von allen Gegnern des Vietnamkrieges getragen.“
Seinen Parka hielt er jetzt hoch, so dass wirklich alle den Kreis mit dem eigenartigen auf dem Kopf stehenden geteilten Ypsilon sehen konnten.
„Auf unserer Freizeit werden wir uns sicherlich mit diesem Thema beschäftigen. Die christliche Kirche – unser Reiseveranstalter, wenn man so will – hat ja, allein schon durch die offenbarten Glaubensgrundlagen in der Bibel, ein Interesse an diesem Thema.“
Er dachte kurz nach.
„Ich denke dabei so an Matthäus 5 zum Beispiel.“
Jetzt sah er die beiden Leiter – Anders und Jensen – an, um dann fortzufahren: „Oder sie sollte dieses Interesse wenigstens haben.“
Er hatte etwas zu sagen, dieser Sven Philipp Quintus.
„Auf Sylt besuche ich das nördlichste Gymnasium Deutschlands, das Staatliche Gymnasium Westerland. Westerland, das ist unsere Hauptstadt. Und dort haben wir schon einmal eine feine kleine Demo zuwege gebracht. Unsere Oberstufe zog durch das verschlafene Westerland. Und auf einmal waren alle wach.“
Die Zigarette nahm er aus der Spitze und klebte sie sich in den rechten Mundwinkel.
„Die Insel war beeindruckt. Sogar in den Festlandspostillen wurde berichtet.“
Jetzt spielte er mit seiner Zigarettenspitze, wie wenn er Sticks in seinen Händen hätte. Vielleicht war er ihr Schlagzeuger?
„Mal sehen, vielleicht bekommen wir hier auch so etwas zustande. Mal sehen.“
Da ihm offensichtlich Rauch in die Augen gekommen war, nahm er die schon reichlich heruntergebrannte Zigarette in die Hand.
„Ansonsten ist noch anzumerken, dass ich Rock und Pop auch über alles liebe. So wie meine beiden Nachbarn zur Rechten. Besonders, so muss ich hinzufügen, die Rolling Stones. Na ja, und noch so’n paar andere Kandidaten. Jefferson Airplane – wenn die hier jemand kennt? – Kinks, Who, Byrds, Association, Cream, Flowerpot Men – auch noch ganz frisch bei uns –, Lovin’ Spoonful, and so on. Okay, später vielleicht mehr.“
Er drehte sich nach links.
„Vielleicht sollte erst einmal die kleine blonde Schöne zu meiner Linken weitermachen?“
Guter Musikgeschmack, der Quintus. Musste man schon sagen. Von den Jefferson Airplane hatte er immerhin schon einmal etwas gehört. Auf BFBS – dem britischen Soldatensender, den man in Walldorf spät nachts hören konnte, mit meistens unglaublichem Fading – war vor kurzem
Somebody To Love
gelaufen. Die weibliche Stimme – Grace Slick, wenn er das in der Ansage richtig verstanden hatte – war umwerfend gewesen. Wenigstens stimmlich.
Von den Flowerpot Men hatte er bisher nur etwas gelesen, und zwar im New Musical Express. In der
ersten August-Ausgabe
NME, August 5, 1967, No. 1073, S. 4 und S. 9
wurde eine neue Single der Band ganzseitig angekündigt:
Let’s Go To San Francisco
. San Francisco – seit einiger Zeit das Mekka der Hippies. Wie es dort wohl aussah? Und wie es sich dort wohl lebte? Scott McKenzie hatte seinen Song ja dieser Stadt gewidmet. Oder dem Lebensgefühl dort?
Hinter den Flowerpot Men sollten sich unter anderen John Carter und Ken Lewis verbergen, die – mit ihrem unverwechselbaren Gesang – auch für die Ivy League standen. Wenn dieser neue Song zum Beispiel an Tossin’ And Turnin’ von der
Ivy League
Ivy League, Tossin’ And Turnin’, Jun65UK Sorry, seit Dezember 2017 nicht mehr im Netz verfügbar.
erinnerte, wäre das ein absoluter Hit. Dafür würde er seine Hand ins Feuer legen.
Gehört hatte er die Flowerpot Men allerdings noch nicht.
Den New Musical Express hatte ihm sein Bruder zu Weihnachten geschenkt: ein Jahres-Abonnement. Der reine Wahnsinn. Seitdem war er im Prinzip immer auf der Höhe der Zeit – popmusikalisch.
Die Einzelausgabe kostete wohl sixpence, das müsste umgerechnet so in etwa dreißig Pfennigen entsprechen. Aber dann kam vermutlich noch ein ganzer Batzen an Portokosten dazu. Ein unglaubliches Geschenk war das gewesen. Die letzten Ausgaben hatte er sogar dabei. Falls da mal Fragen auftauchen sollten in den nächsten vierzehn Tagen.
Was der ganze Spaß tatsächlich kostete, hatte sein Bruder nicht verraten.
Die Association kannte er überhaupt noch nicht. Völliges Neuland. Oder doch? Waren die nicht in Monterey aufgetreten? Hatten wenigstens die NME-Jungs berichtet, dort war ausführlich über das
Monterey International Pop Festival
NME, June 24, 1967, No. 1067, S. 9 und S. 12
im Juni berichtet worden: „Be happy, be free, wear flowers, bring bells – have a festival.“ So – oder so ähnlich – hatte das Motto gelautet.
Auf jeden Fall hatte der Sven Philipp einen guten Musikgeschmack. Und politisch schien er etwas zu sagen zu haben.
Hatte
er
eigentlich politisch etwas zu sagen? Da war er sich gar nicht so sicher. Interessiert war er schon. Vielleicht sollte er sich für die letzten zwei Schuljahre da etwas vornehmen? Ein guter Vorsatz zur Mitte des Jahres? Na ja, man könnte sogar sagen: ein guter Vorsatz zum neuen Jahr. Schließlich hatte er in einigen Tagen Geburtstag.
Jetzt hatte er nicht aufgepasst, wie es in der Vorstellungsrunde weitergegangen war. Aber die blonde Schöne war noch gar nicht dran. Sven Philipp redete noch immer.
„Ich sollte noch hinzufügen, dass ich beabsichtige, nach den Ferien – also recht bald – die Schule zu schmeißen. Ich habe mich mit meinem Direktor überworfen. Politisch. Und meine Eltern haben mir signalisiert, dass sie mich nicht aufhalten wollen. Obwohl ich ja noch nicht volljährig bin.“
Alle hielten den Atem an. Auch Sven Philipps Nachbarin zögerte.
„Ich denke, ich werde mir Europa etwas näher ansehen.“
Und noch bevor die Blonde beginnen konnte.
„Ich bin gespannt darauf, was wir miteinander erleben werden in den nächsten vierzehn Tagen.“
Sven Philipp drückte jetzt seine Zigarette in dem Aschenbecher aus, der reihum gereicht wurde. Es waren doch viele Raucher unter ihnen.
Und als Sven Philipp tatsächlich nichts mehr sagte, begann seine Nachbarin.
„Ich bin die Carola. Wenn man’s genau nimmt: Carola Regina. Mir reicht Carola. Regina find’ ich blöd. Aber meine Eltern waren nicht zu überzeugen, so kurz nach meiner Geburt. Da war ich zwar schon stimmgewaltig – so erzählen die immer –, aber sie konnten meinen Einspruch gegen die Namenswahl wohl noch nicht so richtig deuten. Und als ich mich artikulieren konnte, war’s zu spät. Also: Carola Regina für alle, die mich ärgern wollen.“
Sie lächelte gewinnend in die Runde. Ob sie John besonders musterte oder der sie, konnte er von seinem Platz aus nicht sehen. Dafür saßen beide in dem großen Kreis, den sie im Gemeinschaftsraum gebildet hatten, zu nahe bei ihm. Er hätte sich schon sehr auffällig vorbeugen müssen. Diese Blöße der Neugier wollte er sich nicht geben, und er blickte auch viel lieber geradeaus. Dort saß
sie.
Ihm schräg links gegenüber. Was sie wohl bei seinem Gestammel gedacht hatte? Auf ihr Gesicht zu achten, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Viel zu aufgeregt war er gewesen. Aber Carola räusperte sich.
„Ich komme aus Schleswig. Besuche dort die Domschule, ein Gymnasium, bin gerade sechzehn geworden, bin – trotz meiner Körpergröße – aktive und begeisterte Handballerin. Spiele bei uns in der Schulmannschaft. Tanze sehr gerne. So die Standardtänze, die man in der Tanzschule lernt. Aber besonders gern Rock ’n’ Roll. Vielleicht gibt’s unter uns Gleichgesinnte?“
Sie schaute in die Runde.
„Vielleicht machen wir ja mal einen Tanzabend. Unsere beiden Gitarreros könnten da sicherlich mit einigen Rock-Songs aufwarten?“
Sie beugte sich vor und sah ihn und John an. Na, die Carola war selbstbewusst. Stellte sich locker in den Mittelpunkt. Und fing noch glatt ein Gespräch mit den anderen an.
„Wie ist es mit euch zwei beiden?“
Sie wollte tatsächlich eine Antwort.
„Ja, Carola, wir könnten behilflich sein.
Slow Down
oder
Rock ’n’ Roll Music
hätten wir drauf. Aber auch
My Bonnie
in einer rockigen Version.“ John drehte sich in seine Richtung. „Benno, fällt dir da noch etwas ein?“
„Wie wär’s mit
Bye, Bye Johnny
? Ist doch auch Rock ’n’ Roll, oder? Und
Down The Road Apiece
?“
Rolling Stones, Down The Road Apiece, Jan65UK: Johns gleich folgender treffender Differenzierung zum Trotz: Chapeau! Eine schöne Auswahl!
„Nee, das ist doch eher Rhythm and Blues? Könnte man aber auch rockig tanzen.“
Jetzt an Carola gewandt. „Du siehst, uns fällt etwas ein. Aber jetzt bist doch eigentlich du dran.“
„Stimmt. Ich wollte nur mal vorfühlen. Ich tanze halt unheimlich gerne.“
Sie überlegte einen Augenblick. „Was noch? Ja vielleicht, dass ich mich sehr auf diesen Aufenthalt hier gefreut habe. Und bisher, soweit man das schon sagen kann, bin ich in meinen Erwartungen auch nicht enttäuscht worden.“
Damit zeigte sie mit beiden Händen auf den Jungen zu ihrer Linken und lehnte sich zurück.
Das war schon eher als lässig zu bezeichnen. Ebenso wie Johns und Sven Philipps Auftritt. Er hatte da einen echten Flop gelandet. Allenfalls konnte er für sich ins Feld führen, dass er von Jensen – der hatte, als sie alle in dem Kreis Platz genommen hatten, das Management übernommen – aufgefordert worden war zu beginnen. Anders und Jensen saßen neben
ihr
, rechts neben ihr. Wären also eigentlich vor ihr dran. Aber sie hatten gleich zu Beginn gesagt, dass sie erst ganz am Schluss etwas zu sich und zu dieser Freizeit sagen wollten. Jensen hatte also gesagt: „Benjamin startet mit unserer kleinen Vorstellungsrunde. Er ist derjenige – wenn ich mich nicht vertan habe –, der unsere gesamte Gruppe hier anführt.“ Diese Hervorhebung hatte ihn endgültig unsicher werden lassen. Jensen präzisierte: „Im Sinne des Alphabets der Vornamen.“ Dabei hatte er ihn angesehen und zusätzlich auf ihn gezeigt.
„Also, Benjamin, würdest du bitte beginnen und uns etwas über dich erzählen. Was dir wichtig und mitteilenswert erscheint. Du hast da alle Freiheiten. Zumal du nun der erste bist.“
Und als er nicht gleich startete, noch ein: „Also, Benjamin. Los geht’s.“
Diese beiden Jensenschen
Alsos
hatten dann ja vielleicht zu seinen vielen
Alsos
geführt. Die dann wiederum – als er sich derer bewusst geworden war – sein endgültiges Geradebreche verursacht hatten. Gab es das Wort überhaupt?
Jetzt hatte er von Carolas Nachbarn gar nichts mitbekommen. Karl Heinz? Genannt Kalle? Er würde jetzt etwas konzentrierter zuhören. Besonders natürlich, wenn
sie
dran war. Aber das war noch einen Augenblick hin. Er lehnte sich zurück und versuchte, die Dinge etwas entspannter zu betrachten. Er war schließlich schon dran gewesen und musste nicht mehr dem Augenblick entgegenbibbern, an dem er seinen Einsatz hatte. Den hatte er schließlich schon vergeigt. Da war jetzt erst einmal nichts mehr zu retten. Sein Bild würde er im Fortgang dieser Veranstaltung aufpolieren müssen. Also Ruhe. Bis zu
ihr
waren es acht Namen – von ihm aus gesehen –, die er sich würde merken müssen. Sechs, wenn man Anders und Jensen abzog. Fünf. John kannte er schon.
Vor Auftritten hatte er immer Angst. Wenn sie als Band auf die Bühne mussten, hatte er zwar keine Angst, aber im Bauch so ein bestimmtes Kribbeln. Stage fright hieß das im Englischen, so hatten sie in einer der letzten Stunden vor den Ferien gelernt. Da ging es in einem Zeitungsartikel um Bühnenschauspieler. Und er hatte seine Englischlehrerin gefragt, ob der Begriff auch für Musikbühnen zutreffe. Was sie bejahte. Ob er einen besonderen Anlass für seine Frage hätte, fragte sie dann. Worauf, bevor er überhaupt etwas sagen konnte, John – der von ihr grundsätzlich und allen Einwänden zum Trotz Dschonn genannt wurde – meinte, der Benjamin sei berühmter Rock-Star und stehe des Häufigeren auf den Bühnen dieser Welt. Da das Schuljahrsende nah, das Wetter sommerlich, die Lehrerin gut gelaunt war, ließ sie sich auf Johns Einlassung ein und befragte ihn nach seiner Karriere. „Please, tell us your story. In plain English, Bendschemin.“ Ihr Benjamin geriet ihr immer dermaßen übertrieben englisch, dass er den Namen jedes Mal noch übler fand, als er das ohnehin schon tat. Aber er hatte lange aufgegeben, sie davon überzeugen zu wollen, dass doch auch ein einfaches Ben ausreiche. Und das sei doch schließlich auch ein englischer Name. Worum es ihr immer zu tun war, wenn sie sie ansprach.
Jetzt hatte er doch glatt den Nächsten in der Runde verpasst. Da bekam er jetzt noch nicht einmal mehr den Namen zusammen. Er beugte sich vor und sah nach links.
Der
Nächste war
eine
Nächste gewesen. Eine ganz Hübsche. So auf den ersten Blick. Blonde kurze Haare. Irgendwie edel, ihr Gesicht. Irgendetwas mit Anne?
Jetzt aber aufgepasst.
„Ja, also, mir geht es da wie der Marie-Anne neben mir. Ich bin auch Leichtathlet. Nicht Mittelstrecke wie Marie-Anne, sondern mehr so die kurzen Distanzen. Einhundert und zweihundert Meter. Vierhundert eher nicht. Da ist der Laufstil schon ein anderer. Mittelstrecke stellt andere Anforderungen als der Sprint.“
Den Jungen, der schon im Bogen ihres Kreises saß, konnte er sehen, ohne sich vorbeugen zu müssen. Das war ein hagerer, sehr durchtrainiert wirkender Typ. Der die ganze Zeit über dadurch auffiel, dass er jedes Mal merklich die Nase rümpfte, wenn sich jemand eine Zigarette anzündete.
„Aber erst einmal zu meinem Namen: Ich bin Eduard. Das kommt aus dem Angelsächsischen und heißt so viel wie Hüter des Besitzes“.
Na, der Typ war richtig.
„Ich komme aus Lübeck. Bekanntlich eine Hansestadt. Dort besuche ich das Katharineum. Das gibt es seit 1531. Damit ist es das älteste der Gymnasien der Hansestadt. Und es ist damit auch neun Jahre älter als die WGS.“
Der Eduard hatte sich vorbereitet. In die Teilnehmerliste, die nicht nur den Herkunftsort, sondern auch die Schule angab, geschaut und dann offensichtlich Bücher gewälzt. Mal eben die Gymnasien Schleswig-Holsteins durchkalendert. Aus einem anderen Bundesland war niemand dabei. Aber immerhin. Jetzt wusste er, dass es die WGS seit 1540 gab. Er vertraute da mal auf den Eduard.
„Meine Lieblingsfächer sind Latein und Griechisch.“
Er machte eine Pause. Die brauchte man jetzt aber auch.
„Natürlich neben Sport. Mens sana und so weiter. Aber das kennt ihr ja.“
Dem müsste man mal einen Tipp geben. Oder eine Kopfnuss? Der wurde ja mit jedem weiteren Wort unausstehlicher. Wie John den wohl fand? Er schaute
sie
an und sah, dass sie breit grinste. Könnte man dreckig nennen, ihr Grinsen. Auch so sah sie heiß aus. Besonders heiß.
„Wer mich im Sprint herausfordern möchte, kann sich ja bei mir melden. Ich werde jeden Tag vor dem Frühstück meine Runden drehen. Die langen Runden – einmal durch den Ort und zurück für die Kondition – und die kurzen Sprints – unsere Stichstraße hier bis zur nächsten Kreuzung –, um nicht aus der Übung zu kommen.“
Er schaute gewinnend in die Runde. Wen wollte der mit dieser Rede gewinnen?
„Übrigens: die Hundertmeter laufe ich in elfkommazwei.“
Wieder ein gewinnendes Lächeln.
„Wenn ich einen schlechten Tag habe.“
Dem müsste man wirklich auf die Bude rücken. Selbstverliebter eitler Geck. Nee, Kotzbrocken. Mal ganz kurz gesagt. War ja wirklich interessant, die Vorstellung hier.
„Aber nun übergebe ich erst einmal an unsere beiden Herren Leiter.“
Auch dieser „Hüter des Besitzes“ bediente sich der Geste des Zeigens mit beiden Händen, die Handflächen nach oben, die beiden kleinen Finger aneinandergelegt. Das hatten schon mehrere so gemacht. Er auch? Konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Ab jetzt spätestens war diese Geste doof.
Anders, der in der Reihenfolge Nächste, verwies auf seinen Nachbarn. Und Jensen meinte nur: „Wir beide, wie verabredet, zum Schluss. Es geht weiter mit Manuela zu meiner Linken.“
Ob die beiden schon alle Namen kannten? Vielleicht durch die Passfotos, die sie bei ihrer Anmeldung mitschicken mussten? Vielleicht war das der Grund für die Passfotos?
Manuela also.
Schuld war nur der Bossa Nova
fiel ihm da nur ein. Das Original von
Eydie Gorme
fand er aber besser. Knackiger. Vor allem hatte die Dame eine viel bessere Stimme als die Bossa-Nova-Manuela. Mal sehen, was
diese
Manuela so bot. Stimmtechnisch. Und auch sonst so.
„Tja, nun ist die Katze aus dem Sack. Ich bin die Manuela.“
Stimme gut. Irgendwie dreckig. Müsste als Sängerin gut kommen. Und von sich überzeugt. Das war doch mal ein Einstieg.
„Manuela aus Eckernförde. Eckern, wie wir Ureinwohner sagen. Oder noch kürzer: Eck. Wegen unseres Autokennzeichens. Dortselbst Schülerin – sehr, sehr mittelmäßige, wie ich erklären muss – des Gymnasiums. Name der Anstalt tut nichts zur Sache. Keine große Lust auf Schule. Was dazu geführt hat, dass ich den Sprung nach UI nicht gepackt habe, sondern eine Ehrenrunde drehen darf. Wegen Latein – tut mir Leid, das so sagen zu müssen, Eduard – und Mathe. Zwei, wie ich weiß, wesentliche Fächer. Für das Leben und so. Aber vielleicht bin ich auch nur faul.“
Sie schaute geradeaus und streifte ihn mit ihrem Blick. Wie zufällig. Sie stand außerhalb von Raum und Zeit in dieser Runde. Das ging sie alles gar nichts an. Sehr lässig.
„Demnächst werde ich achtzehn. Im September.“
Jetzt zündete sie sich eine Zigarette an, inhalierte, stieß den Rauch aus.
„Außer Schule, die ich also nicht so toll finde, beschäftigt mich zur Zeit ganz besonders die Musik. Ich spiele ein bisschen Klavier.“
Kunstpause. So nahm er wenigstens an. Sie zelebrierte ihren Auftritt. Und genoss ihn sichtlich.
„Dann noch ein bisschen Kontrabass.“
Sie wartete wieder einen kurzen Moment.
„Und durch die beiden Vorredner mir schräg gegenüber angeregt überlege ich, ob ich nicht noch ein wenig Gitarre dazu nehmen sollte.“
Jetzt sah sie eindeutig John an.
„Gitarrenmusik ist ja sehr, sehr scharf. Heutzutage. Stones, Yardbirds, Manfred Mann, Spencer Davis, Cream – um nur einige zu nennen. Oder kennt jemand Procol Harum ...?“
Auch jetzt mit Verzögerungseffekt.
„... nicht?“
„Na ja, und last not least und wirklich ganz besonders die Turtles.“
Sie lachte jetzt ganz offen. Sympathisch. Sexy? Sexy. Eindeutig sexy. Sein erster Eindruck stimmte.
„Tanzen tue ich auch gerne. Aber ich kann keine Standardtänze, oder wie das auch immer heißt. Ich tanze, um mein Gefühl auszudrücken. Oder – um es noch treffender zu sagen –, um einfach zu genießen. Bewegung ist Genuss.“
Sie beugte sich etwas vor und drehte sich dabei nach rechts.
„Wie mir Eduard sicher bestätigen wird. Da treffen sich Tanz und Sprint. Oder Eduard?“
Der auf diese Weise erneut ins Gespräch Einbezogene war eindeutig auf dem falschen Fuß erwischt. Was ihm sichtlich peinlich war.
„Da hast du Recht, ... ähh ...“
„Manuela, Eduard. Ich heiße Manuela. Wie Herr Jensen und ich eben angemerkt haben. Aber schön, dass du mir zustimmst. Ich wusste, dass mich jemand mit einem ausgeprägten sportlichen Faible verstehen würde.“
Punktsieg.
„Ja, sorry. Manuela. Ich war wohl gerade nicht ganz momentan. Tut mir leid. Aber das stimmt, was du gesagt hast. Also wir beide werden zusammen laufen? Wenn ich das eben richtig verstanden habe?“
„Genau, Eduard. Das waren meine Worte. Morgen früh also. Um sieben?“
Einige grinsten nur, andere unterdrückten ihr Lachen, einige prusteten los. Eduard hatte durch seine Rede in kurzer Zeit viel erreicht.
„Um zu einem Ende zu kommen: Schule eher nicht, Musik eher ja. Nein! Musik unbedingt. So wie die beiden Herren dort drüben mit ihren Gitarren es ja auch schon geäußert haben. John und Benjamin.“
Wieder eine dramaturgische Pause. Alle sahen John und ihn an.
„Die Namen wird man sich merken müssen. Heute Abend vielleicht eine kleine Kostprobe, die Herren?“
Jetzt sah sie auch ihn an.
„Nun aber zu meinem Nachbarn zu meiner Linken. Was hast du über dich Wissenswertes zu berichten?“
So wie sie das sagte – und so wie sie eben Eduard abgebügelt hatte –, schlechte Startbedingungen für ihren linken Nachbarn.
„Das kam ja schon recht flüssig, Manuela, wenn ich das einmal so formulieren darf?“, er lächelte sie an, „um sozusagen in deinem Ton zu bleiben.“
Er wartete ab, ob sie reagierte. Aber sie schaute ihren Nachbarn nur an, wie wenn sie verwundert wäre, dass der – nach ihrem Vortrag – nicht ganz kleinlaut startete.
„Also – um einen meiner Vorredner zu zitieren – also ich bin der Michael, Kurzform nicht Mike, sondern Mikke. Genau, ihr habt richtig gehört.“
Er sah eindeutig sympathisch aus, der Mikke. Und der Einstieg war schon mal gelungen.
„Ich liebe auch Musik über alles. Rock und Pop allerdings mehr so in zweiter Linie. Was beim täglichen Radiohören halt so abfällt. Mein Herz schlägt für den Jazz.“ Den er sehr amerikanisch aussprach. „Ist hier vielleicht ein Gesinnungsgenosse unter uns?“
Er schaute in die Runde. Aber keine Reaktion.
„Na gut, ein mir bekanntes Phänomen. Macht aber nichts. Wenn Rock und Pop gut gespielt werden, dann finde ich das auch ganz toll. Strengt euch an, John und Benjamin!“
Mikke schien selbstbewusst. Seiner Körpergröße – auch er eher klein – zum Trotz.
„Wenn Rock und Pop aus dem Radio kommen, ist die Qualität ja sozusagen garantiert. Ich hoffe, das tolle Radio hier empfängt AFN. Das habe ich mich schon die ganze Zugfahrt über gefragt, ob es wohl ein Radio im Hause gibt. Wir sind hier ja schließlich im Sendebereich der amerikanischen Soldaten.“
Er überlegte kurz.
„Zugreise ist das Stichwort. Wo komme ich her? Lübeck – wie Eduard, aber wir sind uns dort noch nicht über den Weg gelaufen. Ist wohl mehr ’ne Großstadt.“
So wie er das sagte, klang irgendwie durch, dass er das auch sehr in Ordnung fand, dass sich seine und Eduards Wege in Lübeck noch nicht gekreuzt hatten.
„Gehe dort auf ein Gymnasium, das Johanneum, zu dessen Ehre man sagen kann, dass dort Willy Brandt 1932 sein Abitur abgelegt hat. Und ich werde das hoffentlich in zwei Jahren auch tun. Ich bin also gerade nach UI versetzt, wie ja mancher aus unserer Runde hier. Irgendwie sind wir ja mehr oder weniger gleich alt. Ein paar Monate, ein Schuljahr spielen ja keine Rolle.“
Einen Augenblick dachte er nach.
„Was noch? Musik, Schule, Herkunft ... Alter. Richtig. Ich werde auch siebzehn, aber erst zu Weihnachten. Genau am Heiligabend. Ein Christkind also.“ Er schaute Anders und Jensen an.
„Geschenketechnisch nicht so prickelnd, wie ihr euch sicher denken könnt.“
Er kratzte sich am Kinn.
„Sport. Ja, ich bin sportlich. Sieht man mir vielleicht gar nicht an. So von der Körpergröße her. Ich spiele Tischtennis. In einem Verein in Lübeck. Wir haben hier ja eine Platte. Das ist doch schon mal toll.“
Er kratzte sich wieder. Ob auch er unsicher war? Den Eindruck machte er nicht.
„Ich glaube, das reicht fürs erste.“
Erneutes Kratzen.
„Doch noch etwas: Ich habe mich auf unseren Aufenthalt hier gefreut.“
Er schaute nach links.
„Dann übergebe ich mal an Karina zu meiner Linken. Wir haben, bevor’s hier losging, ein wenig geplaudert. Und so weiß ich ihren Namen.“
Karina lachte Mikke an, zog ihren Rock – beachtlich kurz – glatt, setzte sich gerade auf ihren Stuhl, strich sich mit ihrer rechten Hand eine Haarsträhne aus der Stirn – sie hatte schwarze, lange, krause Haare, dazu blaue Augen – räusperte sich und begann.
„Karina aus Husum – Anfang des Jahres schon siebzehn geworden – gehe dort aufs Gymnasium, das, wie könnte es anders sein, nach einem berühmten Sohn dieser grauen Stadt benannt ist, spiele leidenschaftlich gerne Tennis“, sie blickte Mikke an, „leider kein Tischtennis. Aber vielleicht zeigst du mir, wie man das macht? Die Bälle sind kleiner?“
Sie lachte, Mikke nickte und lachte ebenfalls.
„Als Sport also Tennis. In Sachen Musik haben viele der Vorredner schon fast alles gesagt, was da wesentlich ist. Ich habe vor den Sommerferien mit dem Gitarrespielen angefangen. Habe mich aber nicht getraut, mein Instrument mitzunehmen. Obwohl ich als Dritte im Bunde vielleicht gar nicht aufgefallen wäre, wenn ich falsch gespielt hätte. Schade.“
Sie schaute John und ihn an.
„Vielleicht zeigt ihr mir ein paar Tricks und Kniffe? Sozusagen Privatunterricht?“
Sie nickten beide.
„Das wär’s eigentlich zu mir. Wenn jemand noch etwas wissen will, kann er oder sie ja fragen?“
Als sich niemand meldete, wies sie auf das Mädchen an ihrer linken Seite.
„Dann macht die Michaela wohl weiter.“
Mit der hatte sie offensichtlich auch schon geplaudert, so dass sie ihren Namen kannte. Ob er sich auch einmal näher mit seiner rechten Nachbarin beschäftigen sollte? Obwohl das jetzt störend wäre. Mikke und Karina hatten ja wohl die Zeit vor der offiziellen Runde genutzt. Da war er noch völlig mit sich beschäftigt gewesen. Wie er einen lässigen Auftritt hinbekäme. Diese Offenheit ging ihm wohl ab. Und alles auf die Stage Fright zu schieben, war sehr billig.
Er war bisweilen sehr gefangen. Ob das alles auf den Einfluss und die Erziehung durch seine Eltern zurückzuführen war? Sein Elternhaus empfand er auf jeden Fall, wenn er es denn in einem knappen Begriff ausdrücken sollte, als sehr eng. Seine Eltern wollten sicherlich ihre beiden Söhne wohlbehütet durch die Kindheit führen und sie so auf das spätere Leben vorbereiten. Die Frage war aber, ob man auf diese Weise wirklich auf das Leben vorbereitet wurde? An diesem kleinen Beispiel ihrer Vorstellungsrunde ließ sich doch einiges festmachen. Mit Ausnahme des blöden Eduards bekamen doch alle anderen einen sehr offenen Start hin. So richtig dusselig fiel nur er auf. Neben Eduard. Der – so wollte er sich zugutehalten – aber aus anderen Gründen seinen Auftritt vergeigt hatte. So überheblich wie der war er wohl nicht.
Ob er einmal mit John über dieses Thema reden sollte? So richtig ehrlich? Das ganze Programm sozusagen? Aber eigentlich fühlte er eine Sperre, ein solches Gespräch zuzulassen, in dem er noch mehr über sich, seine Eltern, das Leben im Hause Larsen preiszugeben sich genötigt fühlen würde, als ohnehin – wenigstens für einen guten Freund – erkennbar war. Das war also so noch nicht klar, ob er das wirklich wollte.
Sein Elternhaus war für ihn auf jeden Fall ein echter Dauerbrenner. Er merkte immer wieder, in unzähligen Lebenssituationen, in der Schule, mit Freunden, dass er da mit einem großen Packen Hemmung in solche Situationen ging. Ganz besonders unsicher fühlte er sich, wenn er mit Mädchen zu tun hatte. Nein, das stimmte so nicht. Mit Mädchen konnte er umgehen wie seine Klassenkameraden auch. Da stellte er keine großen Unterschiede fest. Aber mit Mädchen, die ihn interessierten, wurde es schwierig. Um es auf den Punkt zu bringen: Mädchen, die ihn näher angingen, bereiteten ihm Probleme. Und da war ganz bestimmt sein Elternhaus mit zuständig für seine Schwierigkeiten. Das Thema Sexualität war bei seinen Eltern tabu. Dass er aufgeklärt war, hatte sein Vater einmal in einem vertraulichen Gespräch
ermittelt.
So musste man das schon nennen. Mit der Frage: „Weißt du eigentlich, wie Menschen entstehen, Benjamin?“, hatte sein Vater ihn einmal bei einem sonntäglichen Spaziergang beiseite genommen. Auf diese Frage war ihm nur eingefallen, dass sie sowohl im Religions- als auch im Biologieunterricht das Wesentliche gelernt hätten. Was natürlich eine ganz doofe Einlassung war. Aber er hatte schlichtweg gekniffen. War dem Gespräch mit seinem Vater ausgewichen. Wenn es denn überhaupt zu einem richtigen Gespräch gekommen wäre.
Er war da also ganz auf sich angewiesen. Und da setzte er schon sehr auf das tatsächliche Leben, oder wie sollte er das nennen? Hier während dieses Aufenthaltes hatte er doch zwei Wochen die „Möglichkeit zur Praxis“. Dass die anderen sich souveräner vorstellten als er, war eine Sache. Und das war deutlich zu spüren. Aber dass jeder oder jede, die da vor und neben ihm saß, in Sachen Sexualität auch so souverän sich zu verhalten in der Lage wäre, würde er doch einmal grundsätzlich bezweifeln. Das hing dann doch vielleicht mit ihrem Alter zusammen. Und nicht nur mit dem Elternhaus. Obwohl – auch wenn er sich jetzt wiederholte oder gar im Kreise drehte – obwohl sein Elternhaus schon immer, und ganz besonders in solchen Situationen ein erheblicher Klotz am Bein war. Freies, lustiges Jonglieren in Gedanken, Worten und Taten war mit Klotz am Bein nicht eben leicht. Das würde wahrscheinlich auch ein echter Jongleur bestätigen.
Die Tatsache, dass er seit bummeligen zwei Jahren Gitarre spielte, hatte ihn freier gemacht. Besonders seit sie etwa vor einem guten Jahr begonnen hatten, auf Klassenfesten und Schulfesten als Band aufzutreten, fand er, dass er lockerer wurde. Auf der Bühne zu stehen, auch wenn das bisher immer nur kleine Bühnen waren, hatte etwas ganz Besonderes. Das hob einen heraus – im wahrsten Sinne des Wortes. Und man hatte in gewisser Weise Macht über das Publikum. Die tanzten dann nach seiner Pfeife. In diesem Fall: nach seiner Gitarre. Eine Pfeife hatten sie gar nicht in ihrem Ensemble. Rhythmusgitarre, Bass, Schlagzeug, Sänger und Sologitarre. Für die Sologitarre stand er, wie er mit Stolz feststellte. Und John hatte das ja auch ganz freizügig angemerkt. Auf Englisch klang das noch besser: lead guitar. Und in diesem Begriff kam auch gut zum Ausdruck, worum es ging. Wenn er lead einmal platt mit leiten übersetzte, dann zeigte sich darin genau das, was ihm häufig in Situationen abging. Die Fähigkeit, die Dinge im eigenen Sinne zu leiten. Um bei dem Begriff zu bleiben. Der passte schon ganz gut. Souveränität – um das einmal anders zu nennen – hatte doch wohl etwas damit zu tun, die Dinge im eigenen Sinne steuern zu können
und
nicht zu verzweifeln – und sich dann in sich selbst zurückzuziehen –, wenn die Dinge denn einmal nicht steuerbar waren.
Sein Thema.
Aber verdammt! Jetzt hatte er die ganze Zeit nicht aufgepasst. Hatte keine Ahnung, wer da auf der rechten Seite des Kreises alles saß. Es schien so, dass er nicht angesprochen worden war in den letzten Minuten. So wie das ja bei einigen vorher der Fall gewesen war, dass die ihn oder John und ihn einbezogen hatten in ihre Vorstellung. Da wäre dann nur eine ähnlich peinliche Reaktion drin gewesen wie beim Eduard, als der von Manuela ausgehebelt und bloßgestellt worden war.
Das Mädchen neben seiner Nachbarin war gerade dabei, sich vorzustellen. Das heißt, eigentlich musste sie sogar schon fertig sein. Ihre letzten Worte waren: „So viel zu mir. Wenn du jetzt weitermachen möchtest?“ Und damit sah sie seine Nachbarin an. Es ging also auch ohne diese bekloppte Doppelhandmethode.
„Danke, Bente. Du hast übrigens einen schönen Namen, wenn ich das einmal so sagen darf.“ Dabei schaute sie in die Runde. Auch selbstbewusst, die Dame.
„Ich heiße Sigrid, komme aus Marne. Das liegt in Dithmarschen. In Süder-Dithmarschen, um genau zu sein. Die Dithmarscher haben einmal das hoch gerüstete dänische Ritterheer im Meer versenkt. Sie wollten nicht dänische Untertanen werden. Das ist schon einen Augenblick her. So schlappe vierhundertsiebenundsechzig Jahre. Da haben die Dithmarscher Bauern – Februar war’s und bitterkalt – die Siele geöffnet und ihr Ackerland unter Wasser gesetzt. Mit Salzwasser! Und die schwer gerüsteten – im wahrsten Sinne des Wortes: Eisen ist schwer, schwerer als Wasser auf jeden Fall – die schwer gerüsteten dänischen Ritter sind elendiglich ersoffen. Und der dänische König musste wieder abziehen. Ein paar Jahre später hat er das dann aber trotzdem geschafft, sich Dithmarschen untertan zu machen.“
Jetzt machte sie eine Pause.
„Warum erzähle ich das?“
Sie schaute wieder keck in die Runde.
„Vielleicht um deutlich zu machen, dass Dithmarscher Dickschädel sind.“
Sie beugte sich nach vorn und sah ihn an.
„Du, Benno, und du, John, ihr seid doch auch Dithmarscher?“
„Klar, Sigrid. Kann ich alles bestätigen, was du da sagst. Besonders die Sache mit der Dickschädeligkeit. Zeigt sich immer wieder, wenn ich auf meine Eltern treffe. Oder die auf mich. Da fliegen die Funken.“
Da war er schneller gewesen als John. Und er schob noch schnell nach: „Da werde ich mich vor dir in Acht nehmen? Vorsichtshalber?“
Und bevor sie weitermachen konnte: „Ist ja schon witzig, dass die drei Dithmarscher aus unserem Verein hier nebeneinander sitzen. Findest du nicht auch?“
„Stimmt, Benno. Aber ihr beiden – so nehme ich einmal an –, wusstet, dass ihr aus demselben Dorf kommt. Interessant ist aber doch, dass ich zu euch, oder ihr zu mir gefunden habt.“
Sie legte kurz ihre Hand auf seinen Arm.
„Aber ich mache einmal weiter im Text. Dass ich Dithmarscherin bin, habe ich also erwähnt. Ich bin gerade siebzehn geworden, gehe in Marne aufs Gymnasium. Das übrigens nicht, wie manche Gerüchte weismachen wollen, in der ortsansässigen Brauerei untergebracht ist. Und wir beziehen unser Pausenbier ... äh ... unsere Pausenmilch auch nicht von Kuntz. So der Name des ortsansässigen Brauers. Aber jeder Abi-Jahrgang wird zu einer Brauereibesichtigung eingeladen. Und da gibt es dann keine Milch.“
Sie überlegte kurz.
„Am liebsten habe ich Sport. Und da besonders Leichtathletik. Ich bin auch in einem Verein aktiv. Vielleicht mal als Zielvorstellung Mehrkampf. Mal sehen, ob’s was wird. Ansonsten ist Schule eher langweilig, finde ich. Marne ebenso. Walldorf aber auch. Da bin ich auch schon häufiger gewesen.“
Sie sah ihn wieder an.
„Da haben wir uns gar nicht gesehen, Benno.“
Ein kurzer Blick an die Decke, wie wenn sie dort die restlichen Informationen abrufen könnte.
„Musik finde ich auch toll. Ganz besonders die Musik der letzten Jahre. Ich finde, da hat sich musikalisch etwas getan, was so vorher noch nicht da war. Und da meine ich nicht nur die Beatles oder die Stones. Sondern es gibt doch dermaßen viele Gruppen und auch Stilrichtungen, dass nur ein Ignorant sagen kann, das interessiere ihn nicht oder da finde er für sich nichts. Das geht doch gar nicht.“
Ein Blick in Eduards Richtung? So kam es ihm vor.
„Ganz besonders scharf finde ich die Lovin’ Spoonful. Die hatte doch schon jemand erwähnt? Warst du das nicht, Sven Philipp?“
Sven Philipp beugte sich vor und nickte in ihre Richtung.
„Korrekt, Sigrid. Heiße Combo, echte mindfucker, sehr abgefahrene Musik. Outtasight, wie wir Fachleute sagen.“
Sigrid lehnte sich jetzt entspannt zurück. Sie sah gut aus. Sportlich, das konnte man ihr ansehen. Schwarze Augen und ein wie mit schärfstem Messer und Lineal und Zirkel gestalteter Bubikopf. Haarfarbe auch schwarz. Dunkler Teint. Oder einfach Sonnenbräune. Und sehr lebhaft, wie sie ja eben alle erlebt hatten. Sie hatte zusammen mit Manuela das Zimmer neben ihnen.
„Also noch einmal zusammengefasst: Schule und spießige Kleinstädte – nee, danke! Sport und Musik – ja, gerne. Ich überlege übrigens auch, ob ich nicht Gitarre spielen lernen sollte. Ihr könnt mich ja einmal beraten in der Angelegenheit. Benno und John?“
Sie legte ihm wieder kurz ihre Hand auf den Arm. Sehr unkompliziert schien sie zu sein, die Sigrid.
„Und wer mir einen Gefallen tun will, nennt mich nicht Sigrid, sondern Siggi. Kurz und knapp: Siggi.“
Sie drehte sich zu ihm.
„Dann kann Benno ja mit einer zweiten Runde starten? Oder spielt ihr uns gleich etwas vor?“