Als er aus der Schule kam, lag auf seinem Schreibtisch ein Brief. Musste seine Mutter da wohl hingelegt haben. Der Briefumschlag lag so, dass der Absender deutlich lesbar war: Siggi Johannssen. Johannssen mit Doppel-n und Doppel-s. Siggi dafür mit Doppel-g. Einfache Buchstaben waren aber auch gar nicht in der Lage, diese tolle Frau auch nur ansatzweise zu fassen.
Ob seine Mutter bei Siggi an die Kurzform von Siegfried gedacht hatte? Oder ob sie sofort den zutreffenden Verdacht hegte?
Sie hatte einen neutral-weißen Umschlag gewählt, die Siggi. Er schnupperte am Umschlag. Der roch nach ihr. Sein Herz beschleunigte noch einen Schritt. Schon das Lesen ihres Namens auf dem Umschlag hatte für Erregung gesorgt.
Was hatte sie mitzuteilen? Sie waren ja erst eine Woche zu Hause.
Er öffnete den Umschlag vorsichtig mit einem Messer, damit der Brief ja nicht verletzt würde, und las:
Marne, 3. September
Mein liebster Benjamin,
Sein Herz hüpfte.
es ist sehr schwer, sich daran zu gewöhnen, dass wir uns nicht mehr täglich sehen. Wie geht es Dir damit?
Genauso, Siggi. Akkurat genauso.
Auch als wir noch nicht „zusammen gingen“ – komische Formulierung, aber ich glaube, so sagt man wohl –, habe ich das immer sehr genossen, Dich zu sehen oder mit Dir zu sprechen oder gemeinsam – auch wenn es in der Gruppe war – etwas zu unternehmen.
Stimmte, auch er hatte schon vor ihrem endgültigen „Zusammentreffen“ zunehmend gemerkt, dass sie ihn interessierte. Sehr interessierte.
Aber die letzten Tage waren doch sehr, sehr schön. Am schönsten unser Beisammensein im Edsel. Ich habe inzwischen in einem Wörterbuch nachgeschaut: Pacer heißt unter anderem „Schrittmacher“. Wie findest Du das? Witzig, oder?
Korrekt. Schrittmacher passte absolut zu ihren Verrichtungen. Besonders wenn er an die Federung des Schlittens dachte. Sehr, sehr amerikanisch.
Um es kurz zu machen: Warum schreibe ich Dir? Ich habe wohl Sehnsucht. Was hältst Du davon, wenn Du mal per Anhalter nach Marne kommst??? Walldorf und Marne trennen keine Welten!!!
Auch das stimmte. Und er hatte auch schon daran gedacht. Die Entscheidung musste er jetzt ja wohl nicht mehr treffen. Klare Sache, Marne war sein Ziel. Und zwar nicht die Brauerei. Müssten sie dort nur noch einen Amischlitten finden. Na, mal nicht vorgreifen. Erst mal hinfahren.
Was schrieb sie noch?
Schreib’ doch zurück, wenn du einverstanden bist. Oder rufe an. Meine Telefonnummer habe ich unten notiert. Meine Eltern wissen Bescheid, dass Du eventuell anrufst. Du musst ihnen dann nur den Termin nennen. Aber das gilt natürlich nur für den Fall, dass Du mich nicht persönlich erreichst.
Das war ja doll. Könnte er sich bei seinen Eltern gar nicht vorstellen, dass er denen erzählte, er habe da jemanden kennen gelernt. Eine junge Frau. Die demnächst einmal anrufe. Und vorbeischaue. Er war gespannt darauf, ihre Eltern kennen zu lernen.
Benjamin, ich habe Sehnsucht!!! Lass’ nicht zu viel Zeit verstreichen!!!
Eine Welle von Küssen!!! Überallhin!!!
Deine Siggi
Eine Welle von Küssen!!! Überallhin!!!
Deine Siggi
Sein Herz hüpfte.
Hüpfen war gar kein Ausdruck.
Wildes Entzücken!
Hurra!!!
Heute war Dienstag. Dann hatte der Brief zwei Tage gebraucht? Was sagte der Poststempel? 4. September. Also gestern hatte sie ihn eingesteckt. Einen Tag war der unterwegs gewesen. Das war wohl normal. Freitag oder Samstag könnte er fahren. An beiden Tagen hätte er nur vier Stunden und könnte sich nach dem Mittagessen an die Straße stellen. Vorausgesetzt Siggi hätte da Zeit. Das würde er morgen in einem Telefonat klären. Am Mittwochnachmittag ging seine Mutter zum Kegeln und könnte ihn dann nicht bei einem so heiklen Telefonat überraschen. Seine Eltern waren wohl sehr anders als Siggis.