16 – Epilog 2: Jot Punkt Marxen

Auch heute lag, als er aus der Schule kam, ein Brief auf seinem Schreibtisch. Hatte seine Mutter schon wieder Arbeit gehabt. Es war seit einiger Zeit so üblich, dass sie ihm seine Post auf den Tisch legte. Immerhin ungeöffnet. Das Postgeheimnis galt aber noch gar nicht so lange im Hause Larsen.
Gelber Umschlag, seine Anschrift in Schönschrift. Als Absender nur „J. Marxen“, keine Straße, keine Stadt. Er kannte keinen J., und einen Marxen schon einmal gleich gar nicht.
Wieso eigentlich
einen
J.? Warum nicht
eine
J.? Er schnupperte an dem Umschlag. Der roch nicht neutral. Eine J. Das war die Lösung. Er bekam erneut Damenpost. Na so was. Das riss ja langsam ein. Eine Serie sozusagen? Aber ihm fiel keine J. ein. In seine Klasse ging eine Janina. Aber die schrieb ihm nicht. Das wäre ja auch noch schöner. Die sah er schließlich jeden Tag. Außerdem fand er sie doof. Und wie sie ihn fand, war ihm gleichgültig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die ihm schrieb. Er roch noch einmal an dem Umschlag. Und irgendwie schlichen die Duftmoleküle auf verschlungenen Wegen in sein Gehirn. Sie hatten das im Biologieunterricht einmal genauer untersucht, welche Wege Gerüche gehen und was für Informationen und Gefühle da mittransportiert wurden.
Gefühle?
Gefühle!
Und zwar gute … und nicht so gute.
Alles klar. Dass er darauf nicht gleich gekommen war. Aber damit war doch auch gar nicht zu rechnen gewesen, dass
die
ihm schrieb. Nach der Geschichte. Ihrer gemeinsamen Geschichte. Aber immerhin hatte sie den Umschlag ja neutral gestaltet, so dass seine Eltern nicht sofort Verdacht schöpfen konnten. Anders als die Siggi gestern. Obwohl seine Eltern aufgrund dieser Rätselhaftigkeit – „Jot Punkt Marxen?“, er hörte seine Mutter diesen Namen regelrecht in seine Bestandteile zerlegen – vielleicht gerade Verdacht schöpften.
Genug gerätselt, er riss den Umschlag auf und nahm den Brief heraus. Vielleicht wollte sie sich ja nur für ihr schlangenhaftes Verhalten entschuldigen. Reichlich spät.
Er entfaltete den Bogen und las:


Lübeck, 5. September
Lieber Benno,

eigentlich hatte ich gehofft, dass ich Dir diesen Brief nie schreiben müsste. Und es ist mir auch wirklich peinlich. Gerade weil sich unser Verhältnis ja im Laufe der vierzehn Tage in Waldtal zunehmend abgekühlt hat. Woran – und das ist mir natürlich völlig klar – ich einen besonders großen Anteil trage. Aber ich bin in großer Not.
Meine Regel ist überfällig.
Und eigentlich kommst nur Du in Frage.
Was sagst Du nun?


Hurra! Er sollte Vater werden!
Verdammte Scheiße! Dat haal de Düwel!
Was sollte er da sagen?
Sein Verdacht, das, was sie da miteinander getrieben hatten, sei der bei weitem sicherste Weg, einen solchen Brief nötig werden zu lassen, schien sich zu bestätigen.
Alles klar, Julia, lass’ es mich wissen, falls Unkosten entstehen.
Weißt Du schon, was es wird?
Wann sagen wir es den Großeltern?
Weiß der Sergeant schon von seinem Glück, dass er jetzt Onkel wird?
Kein Problem, Julia, komme für alles auf!
Nee, Mist! So ging’s nicht. Er musste von dieser Scherzebene herunter.
Mannomannomann!
Er setzte sich hin, nahm sich den Bogen wieder vor:


Der Sven Philipp, in den ich mich ja verliebt habe – Du erinnerst Dich vielleicht? –, ...


Na klar, erinnerte er sich. Damit fing die Scheiße doch an. Nee, stimmte nicht. Wenn das mit Julia nicht so fix zu Ende gewesen wäre – eigentlich ja sogar, bevor es begonnen hatte –, wären die Manuela und die Siggi vielleicht gar nicht mehr ins Spiel gekommen. So einfach war das alles nicht. Weiter im Text!


... kommt für eine Vaterschaft mit ziemlicher Sicherheit nicht in Frage. Wir beide haben zwar häufig miteinander geschlafen, aber immer mit Verhütung.


Aha, auch noch „häufig“. Na gut. Er ja auch. Und das noch mit wechselnden Frauen. Also weiter!


Du und ich – Du erinnerst vielleicht? – aber nicht. Also – wie soll ich das ausdrücken? – wir beide haben das ja ohne Verhütung gemacht.


Genau. Seine Rede. Aber eben erst hinterher. Mannomannomann! Was wusste sie noch zu erzählen?


Meine Eltern wissen noch nichts. Ich bin auch noch bei keinem Arzt gewesen, sondern habe das Ganze erst einmal nur mit meiner besten Freundin besprochen. Die ist aber ganz bestimmt verschwiegen.


Na, das wollte er mal hoffen. War ja schon ein Unding, dass überhaupt jemand anderes ihnen gedanklich ins Unterholz folgte. Aber hätte er wahrscheinlich genauso gemacht. Sie war in Not. Das wollte er ihr glauben.
Er ja auch. Spätestens jetzt. Wem konnte er sich anvertrauen? Seine Eltern schieden aus. Keine Frage. Sein Bruder? Der dachte vielleicht auch noch immer, er sei ein Kind. Der kleine Benjamin soll Vater werden? Der doch nicht. Das ist doch mein kleiner Bruder. Oder so ähnlich. Wie sein Bruder wirklich reagieren würde, wusste er allerdings nicht. Das Thema Sexualität war bisher noch kein Thema gewesen zwischen ihnen. Dessen Fragen, ob er denn eine Freundin habe, ein Mädchen aus seiner Klasse gut finde, als Rock-Star auf der Bühne schon einmal in näheren Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht gekommen sei, hatte er immer ausweichend beantwortet. Kurz: Er hatte gekniffen.
Aber der Brief war noch nicht zu Ende:


Ich wollte noch nicht sofort die ganze Welt verrückt machen. Aber ich finde, dass Du Bescheid wissen musst und nicht erst vor vollendete Tatsachen gestellt werden darfst, wenn es zu spät ist.


Da mochte sie wohl Recht haben. Man musste sich schließlich auf so etwas Einschneidendes einstellen können. Aber wie stellte man sich auf Vaterschaft ein? Mit Siebzehn? Als Schüler? Als Rock-Star?
Letztere Frage war am einfachsten zu beantworten. Als Rock-Star war es schon eher ungewöhnlich,
nicht
irgendwo auf der Welt – und sei es in Lübeck – Nachwuchs herumlaufen zu haben. Das gehörte quasi zum Geschäft dazu.
Frage zwei und drei waren da schon schwerwiegender: Wahrscheinlich würde er die Schule verlassen müssen. Punkt!
Und die noch gar nicht gestellte Frage, was seine Eltern, also die Großeltern in spe sozusagen – Ohauehaueha! –, zu dem Kasus anzumerken hätten, mochte er sich gar nicht ausmalen. Da war er vollständig überfordert.
Bei Frage eins erst recht. Das war ja vielleicht die zentrale Frage. Die konnte er jetzt noch nicht beantworten. Die erforderte wohl noch längeres Nachdenken. Und Diskussionen. Zumindest mit sich selbst. Am besten auch mit anderen vertrauenswürdigen Personen. Das war schließlich keine Ja-Nein-Frage. Vaterschaft? Klar! Nächste Frage bitte.
Nee, so ging’s wirklich nicht.
Wie ging’s weiter in Julias Brief?


Also mache Dir erst einmal nicht zu viele Sorgen ...


Aha. Ach so.


... ich werde Dir – vor allen anderen! – sofort schreiben, wenn ich Näheres weiß.

Liebe Grüße

Deine Julia


Allein schon: Deine Julia. Stimmte ja hinten und vorne nicht. Schon in Waldtal nicht. Na gut, war halt eine Floskel. Sollte er jetzt zurückschreiben? Was schrieb man als Vater in spe? Dass man’s lieber nicht würde? Oder sollte er ihr jetzt einen Heiratsantrag machen? Vorher müsste er natürlich den Sergeant fragen.
Scherz beiseite! Verdammt! Der Sergeant dürfte – egal wie die Chose hier ausging – nie etwas davon erfahren. Obwohl – wenn die Vaterschaft zuträfe, ließe sich das gar nicht vermeiden. Aber wenn noch einmal alles gut ginge, dann sollte er nichts erfahren. Von ihm bestimmt nicht. Und von der Julia ja ganz bestimmt auch nicht.
Aber sie hatte noch ein Postskriptum angefügt:


P.S.: Ich werde, wenn sich nicht auf „natürlichem Wege“ alles klärt, also ich meine Tage bekomme, in der nächsten Woche zum Frauenarzt gehen. Bis dahin kann ich Dich nur um Geduld bitten.


So, so. Geduld war gut. Woher nehmen? Er müsste das auch mit jemandem besprechen. Da ging’s ihm ähnlich, wie es der Julia ja offensichtlich auch ging. Das musste man mit jemandem besprechen. Allein konnte man das gar nicht aushalten.
Aber mit wem? Das müsste er sehr genau überlegen.
Und sollte er ihr zurückschreiben? Und wenn ja, was?
Und außerdem: Er musste nach Marne. Zur Siggi.
Vaterschaft passte jetzt nicht! Düwel ok!
Ohgottogottogott!