Acht Uhr. Die Tische waren – wie zu jeder gemeinsamen Mahlzeit – in einem großen U aufgestellt. Alle konnten an einer Tafel Platz nehmen. Die Tische der Länge nach in einer Reihe – die eigentlich idealere Tafel, wie er fand – passten nicht in den Gemeinschaftsraum. So wie die Tische und Stühle hier gestellt waren, hatten sie alle Platz. Zweiundzwanzig Menschen, die alle mehr oder weniger hungrig, kaffee- oder teedurstig waren.
Mit der Vorbereitung des Frühstücks begannen die „Diensthabenden“ – so nannten sie diejenigen, die Mareike beim Vorbereiten der Mahlzeiten, beim Decken der Tische, beim Abräumen und Saubermachen, aber auch beim Einkaufen für den jeweiligen Tag helfen mussten – mit der Vorbereitung begannen sie also eine halbe Stunde vor Beginn des Frühstücks in der Küche. Heute gehörten John und er zu der Mannschaft. Mit von der Partie waren Birgit und Bente. Birgit aus dem Hamburger Rand. Das hatte er bei der Vorstellung nur mit halbem Ohr gehört. Klein, kugelig, unscheinbar, irgendwie immer fettige Haare. Aber nett und fast immer lustig. Bente von Föhr. Ihr Name war wohl ein friesischer. Auch sie war ziemlich klein, aber schlank und drahtig. Und irgendwie sportlich. Sie gehörte ebenfalls zu denjenigen, die er nicht richtig mitbekommen hatte. Und er hatte bis jetzt – heute waren sie eine Woche hier, Halbzeit also – noch keine Gelegenheit gefunden, die beiden näher kennen zu lernen. Oder er hatte keine Lust gehabt, wenn er ehrlich war. Er hatte so viele andere Dinge zu tun. Marie-Anne, Manuela und Julia beobachten. Ja, besonders Julia. Die allerdings in den letzten beiden Tagen merkwürdig reserviert ihm gegenüber war. Am Donnerstagabend tauchte sie gar nicht mehr auf, sondern war, gleich nachdem sie im Haus angekommen waren, auf ihr Zimmer verschwunden. Mareike hatte sie mitgeteilt, sie fühle sich nicht wohl, sie bleibe auf ihrem Zimmer. Und weder gestern noch heute hatte sie seine Nähe gesucht. Er wusste nicht, ob er ihr jetzt auf den Pelz rücken sollte oder lieber nicht. Gestern hatte er sie, als sie einmal zufällig allein waren, angesprochen, aber sie hatte sofort etwas vorgeschoben und war wieder verschwunden. Vielleicht wollte sie die Dinge ja geheim halten? Merkwürdig war ihr Verhalten in jedem Fall. Er würde es heute noch einmal versuchen. Das nahm er sich fest vor. Ja, und die ersten beiden – Marie-Anne und Manuela – die kümmerten sich auch nicht so recht um ihn. Eigentlich sogar überhaupt nicht. Marie-Anne hatte versprochen, ihn zu meiden, was sie konsequent tat. Und Manuela konnte er nach wie vor nicht ausrechnen. Sie gab sich ganz offen. Das allerdings jedem gegenüber. Ihn mied sie nicht. Aber sie beachtete ihn auch nicht besonders.
Also waren seine drei „Beobachtungsaufgaben“ nur Ausrede. Er musste sich eingestehen, dass er wenig Neigung verspürte, Birgit und Bente näher kennen zu lernen. Das ging ihm noch bei einigen anderen so. Kennen lernen tat man sich hier natürlich grundsätzlich. Allein schon durch die Veranstaltungen, die diversen Spiele in Gemeinschaft, die Wanderungen, die sportlichen Aktivitäten, die Mahlzeitenvorbereitungsdienste – so wie heute –, die Bibelstunden und Andachten, nicht zu vergessen ihre Freizeit. Und in den Zusammenhängen waren ihm Birgit und Bente als sehr nette, unkomplizierte Personen begegnet. Aber zu einem intensiveren Austausch war es nicht gekommen. Und das lag wohl an ihm.
Sie lebten vierzehn Tage in einem Haus zusammen. Da blieben Kontakte nicht aus, sondern – ganz im Gegenteil – sie waren ja beabsichtigt. Und das war auch ganz okay so, wie es war. Das hatte sich ja durchaus schon ausgezahlt für ihn. Doofe Formulierung, aber ihm fiel da im Moment nichts Besseres ein.
Als alle an ihren Tischen saßen, sagte Buddy Jensen: „Heute wird Sven Philipp unsere kleine Morgenandacht halten. Sven Philipp, bitte.“
Sven Philipp stand auf, räusperte sich, griff seine Bibel, die er an der Stelle, an der ein Lesezeichen herausragte, aufschlug.
„Ich habe mir als Losung für den heutigen Tag einen kleinen Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium ausgesucht. Der handelt vom Vergelten und von der Feindesliebe. Also hört mal genau zu:
Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstehen sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar.
Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.
Und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.
Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.
Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen,
auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über
Gerechte und Ungerechte
.
Die Bibel, Stuttgart Privileg. Württ. Bibelanstalt, Matthäus 5, 38 – 45, S. 7
Amen!
Amen ist Hebräisch und bedeutet – ich sage euch jetzt sicher etwas, was ihr schon wisst – „Wahrlich!“ oder „Es geschehe!“ oder „So sei es!“. Also wünsche ich, dass es so sei, dass die Amerikaner und die Nord-Vietnamesen Frieden schließen, dass der Geist dieses eben gelesenen Bibelwortes in den – wie man hört – bibelgläubigen amerikanischen General Westmoreland fahre, der im Juli gerade weitere 200.000 amerikanische Soldaten für den Vietnamkrieg angefordert hat, dass Präsident Johnson diesem dem eben gehörten Bibelwort widersprechenden Gesuch widerspricht, dass die Amerikaner ihren Überfluss teilen mit einem der ärmsten Länder dieser Welt, mit Nord-Vietnam, einem Land, dem sie unsäglichen Schmerz und Verwüstung zugefügt haben.“
Jetzt machte Sven Philipp eine kleine Pause, um einmal durchzuatmen und in die Runde zu schauen. Ob er aufgeregt war? Alle saßen gebannt auf ihren Stühlen. Auch Anders und Jensen. Eine solche Politisierung – war das jetzt der richtige Begriff für das, was Sven Philipp da gerade veranstaltete? – hatte es hier noch nicht gegeben. Und das auf nüchternen Magen. Sven Philipp war ein heißer Vogel. Ein Paradiesvogel. Gab es Paradiesvögel? Egal. Er war einer.
„So sei es, möchte ich abschließen. So sei es: Auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Das möchten Präsident Johnson und General Westmoreland sicher auch gerne sein. Wir drücken ihnen die Daumen, dass sie es werden. Und wir schließen sie jetzt ausdrücklich in unser stilles Gebet mit ein.“
Er senkte den Kopf, faltete seine Hände und verharrte einen Augenblick in Stille.
Es war mucksmäuschenstill.
Dann räusperte er sich erneut. Vielleicht ja um allen anzudeuten, dass sie wieder atmen und weiterleben durften, dass die Stille vorbei war, dass das Leben wieder Einzug halten durfte. Und im Hinsetzen sagte er noch einmal „Amen!“ und wünschte dann allen: „Einen gesegneten Appetit!“ Griff sich ein Brötchen, schnitt es auf, bestrich es mit Butter, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Was alles – nach dem eben Gehörten – etwas Unwirkliches hatte.
Nach und nach folgten ihm alle, und die gewohnte Frühstücksatmosphäre entwickelte sich: laut, klappernd, klirrend, duftend. Und Gespräche begannen.
„Sven Philipp, das war toll, was du da gemacht hast. Astrein die Bibel und die Politik verbunden. Kann man das so sagen?“
„Danke, Benno. Ja, kann man wohl. Ich habe darüber einmal mit meinem Vater gesprochen. Über die Bergpredigt, aber auch über diesen Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium. Und da ist mir die Idee gekommen, das einmal so zu formulieren. Und hier bot sich die Gelegenheit.“
Er schlürfte genüsslich seinen Kaffee.
„Ich finde, die Bibel ist viel radikaler, als man so meint. Und besonders, als manche der Kirchenleute sich trauen zu sagen.“
Er biss in sein Brötchen und sprach mit vollem Mund weiter.
„Man muss die Dinge doch benennen. Das ist doch kein Verbrechen. Wenn ich mir da unsere große christliche Partei anschaue und den kleinen bayerischen Ableger, dann frage ich mich mitunter wirklich, ob die überhaupt schon einmal in die Bibel geschaut haben. Sollten die mal. Sollte man denen mal einen Kurs spendieren. Vielleicht hier in dieser Einrichtung. Könnten die glatt noch was lernen.“
Er trank noch einen Schluck Kaffee.
„Aber die Frage ist doch“, jetzt schaute er in die Runde derer, die ihm zugehört hatten, „na, welche Frage stellt sich da? Was meint ihr?“
„Na, ist doch klar“, meinte Julia ganz kess, „die Frage ist, ob die das überhaupt wollen. Nämlich etwas lernen.“
Recht hatte sie, die Julia. Mit der er vorgestern geschlafen hatte. Und die jetzt ihm gegenüber so neutral tat. Freundlich, aber neutral. Und sich seitdem bemühte, nicht mehr mit ihm allein zu sein. Vielleicht hatte sie sich einfach nur vorgenommen, in diesen Ferien das erste Mal hinter sich zu bringen. Und die Wahl war auf ihn gefallen. Immerhin. Konnte er sich, wenn es denn so war, etwas darauf einbilden? Wenn es denn so war, käme er sich eher wie ein Werkzeug vor. Mittel zum Zweck. Und ihre Sätze, sie finde ihn toll und männlich und dass sie das noch besser hinbekämen? Auch alles nur vorgespielt? Scheiße! Mannomannomann! Das war ein verdammt kompliziertes Feld, auf dem er sich hier bewegen musste. War das das Erwachsenwerden? Na, Prost Mahlzeit.
Sie sah – egal, wie die Dinge sich verhielten – wirklich gut aus. Dass ihm das nicht gleich am ersten Tag aufgefallen war. Und im Wald vor zwei Tagen sah sie so unbeschreiblich aus, dass er das kaum aushalten konnte. Wenn er sie jetzt ansah, regte sich sofort wieder jemand. Verdammt! Warum war das alles so verzwickt im Leben? Und nirgends eine Gebrauchsanweisung! Die Erziehungsbemühungen seiner Eltern fand er nicht hilfreich, bisweilen sogar kontraproduktiv. Das Wort müsste hier wohl passen? Produktiv, aber in der verkehrten Richtung, so hieß das doch wörtlich übersetzt? Und damit dann ja das Vorankommen behindernd. Oder sogar
ver
hindernd. Anstand und Sitte spielten eine zu große Rolle bei seinen Eltern. Und – ganz besonders – das Daraufachtgeben, was andere von einem dachten. Nicht anecken, unscheinbar bleiben, funktionieren. Nee, nee, nee, das war alles Scheiße! Nicht sein Weg!
Ob er mit Sven Philipp in Kontakt bleiben könnte? Der musste ein aufgeklärteres Elternhaus haben, auch wenn dessen Eltern ja in etwa gleich alt waren wie seine. So eine Haltung, die Sven Philipp hier zeigte, kam doch nicht einfach so. Wenn der wirklich nach den Sommerferien nicht mehr zur Schule ging? Unvorstellbar für ihn. Aber eine so große Familie und dann noch vier ältere Geschwister, die allesamt deutlich älter waren, das sprach dafür, dass die Prozesse – ihm fiel da im Augenblick kein besseres Wort ein – in Sven Philipps Elternhaus anders liefen als bei vielen der hier Anwesenden. Nicht nur bei ihm. Das hatte doch auch wieder etwas Entlastendes.
Offener musste es dort zugehen. Offener – das war’s vielleicht. Das betraf doch alle Lebensbereiche. Das fing an bei der Art und Weise, wie man miteinander redete und lebte, und hörte sicher noch nicht da auf, wo es um Erlaubtes und Verbotenes ging und die dafür bemühten Begründungen. Eine solche Offenheit – er unterstellte die einfach einmal bei Sven Philipps Eltern – müsste doch eigentlich auch ein ganz anderes Geborgenheitsgefühl ermöglichen. Geborgenheit
trotz
Offenheit. Oder: Geborgenheit
wegen
Offenheit? Klang auf den ersten Blick widersprüchlich. Aber nur auf den ersten Blick. Eigentlich war’s das. So müsste es vielleicht funktionieren. Vielleicht.
„Ich glaube, das Hauptproblem ist, dass von den Politikern in Verantwortung keiner als radikal gelten möchte. Da könnten sie ja in die Nähe der sogenannten aufbegehrenden Jugend gerückt werden. Vielleicht sogar noch als links abgestempelt werden. Das wäre ja ... also wie sagt man da? ..., als ob der Gottseibeiuns in die Politik gefahren wäre! Alles ja, nur nicht radikal!“
Sprach er jetzt noch mit ihnen allen? Oder nur noch mit Julia?
Sven Philipp schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein, den er grundsätzlich schwarz und ohne Zucker trank. Und heiß.
„Und das gilt wohl zur Zeit leider für fast alle Politiker aller Parteien. Ist ja „Große Koalition“. Die Schwarzen mit den Roten. Kiesinger? Puh! Brandt? Na ja. Und diese klitzekleinen Umfaller vom schönen Erich kann man sowieso vergessen. Hoffentlich fliegen die noch mal aus dem Bundestag. Dolle Opposition. Nee, wirklich! Kein Wunder, dass sich Widerstand regt.“
Er nahm noch einen Schluck Kaffee.
„Und wenn man dann noch West-Berlin vor zwei Monaten sieht. Der Kriminalobermeister Karl Heinz Kurras erschießt
in Notwehr
den unbewaffneten, unbeteiligten, nur sein Grundrecht der Demonstrationsfreiheit wahrnehmenden Studenten Benno Ohnesorg. Und ich sage euch, der Kurras wird nicht belangt werden. Da wette ich drauf.“
Jetzt schmierte sich Sven Philipp noch ein Brötchen.
„In Notwehr! Das muss man sich mal vorstellen! Wer hat den denn bedroht? Vielleicht eine Parole, die die Studenten gerufen haben? Oder Benno Ohnesorg hat ihn böse angeschaut? Was nicht sein kann. Der Schuss kam von hinten. Wie gesagt: In Notwehr. Aber irgendwie
planmäßig unabsichtlich
?“
Die um ihn Sitzenden hörten gespannt zu. Sven Philipp war irgendwie weiter. Auch als die anderen? Zu seiner Entlastung wünschte er sich das. Vielleicht müsste er sich intensiver mit Merseburger, Casdorff, Lindlau, Gaus und Co. beschäftigen. Die hatten doch scharfe politische Magazine in der ARD. Immerhin bekam er die Namen zusammen und gesehen hatte er sogar auch schon die eine oder andere Sendung. Darüber müsste er mal mit seinen Eltern reden. Obwohl er das schon geschickt verpacken müsste: „Anforderungen der Schule und so“. Denn dass seine Eltern kritische Neigungen bei ihm stützen wollten, war eher nicht zu erwarten.
„Kein Wunder, dass da die Studenten demonstrieren. Im Gegenteil: Ein Wunder, dass eigentlich
nur
die Studenten demonstrieren. Warum nicht alle?“
Er spülte mit einem Schluck Kaffee den letzten Bissen hinunter. Und da jetzt – wie er mit schnellem Rundumblick feststellte – alle mit dem Frühstück fertig waren, holte er Tabakpäckchen und Blättchen heraus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Der letzte Esser war er gewesen. Und die Verabredung galt, während des Essens nicht zu rauchen.
„Wenn wir Matthäus ernst nehmen, müssen wir natürlich das dort Gesagte auch auf Kurras anwenden. Nicht nur auf Johnson und Westmoreland.“
Er war mit seiner Zigarette fertig und zündete sie sich an.
„Was mir schwer fällt. Muss ich zugeben.“
Er lehnte sich zurück.
„Vielleicht passen Bibel und Politik doch nicht so gut zusammen? Oder Christentum und Politik? Oder Christentum und Politiker?“
„Vielleicht, Sven Philipp, kann man ja erst einmal feststellen, dass Politiker einfach nicht christlich sind, auch wenn sie sich so nennen?“
„Wäre natürlich eine Lösung, Benno. Aber auch eine Verallgemeinerung. Mir scheint, dass die Institutionen – wie zum Beispiel die Parteien –, obwohl oder weil menschengemacht, nicht unbedingt nach dem Matthäus-Evangelium funktionieren. Die Menschen, die diese Parteien vertreten, hätten es aber in der Hand, diese Organisationen mit Leben zu füllen. Zum Beispiel im Sinne von Matthäus ...“
Julia fiel ihm ins Wort:
„... und erst recht die Menschen, die diese Parteien wählen, hätten es in der Hand! Wenn niemand mehr Parteien wählte, die sich heuchlerisch verhalten, die im Namen ein C tragen, aber gar nicht christlich sind? Wir leben doch in einer Demokratie. Das heißt doch, dass wir die Dinge eigentlich in der Hand haben.“
„Na toll“, Eduard stand auf und kam an ihren Tisch, „na, toll ist das, was ihr da vorschlagt. Wir wählen nur noch die ganz und gar Friedfertigen. Nach dem Motto: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden
Gottes Kinder
Die Bibel, s.o., Matthäus 5, 9, S. 6
heißen.“
Er setzte sich auf einen inzwischen frei gewordenen Stuhl neben Julia. Außer den beiden, Sven Philipp und ihm waren nur noch Manuela und Hannes mit von der Partie.
Eduard war noch nicht fertig.
„Was machen wir nur mit den Menschen auf dieser Welt, die von Matthäus noch nichts gehört haben? Bekehren wir die oder ...?“
Auch Eduard wurde unterbrochen. Von Manuela.
„Vielleicht gibt es ja Menschen, die nicht nur nichts von Matthäus gehört haben, sondern auch gar nichts von ihm hören wollen?“
Hannes vollendete.
„Genau! Ich denke da zum Beispiel an die Sowjetunion und ihre Satelliten. Oder an Rotchina.“
Manuela übernahm.
„Oder wenn wir das mal nicht politisch sehen. Die eben von Hannes Genannten können sich ja gar nicht auf Matthäus berufen. Schließlich ist die dort verordnete Staatsreligion ja der Atheismus. Aber was machen wir zum Beispiel mit all den Menschen auf dieser Welt, die nicht das sogenannte christlich-humanistische Abendland – oder wie heißt das genau? – zu ihrer Basis erklären?“
„Genau, Manuela“, schaltete sich Eduard ein, „und davon gibt es auf der Welt eine ganze Menge. Mehr als Christen auf jeden Fall. Wir sind eine Minderheit. Bedenkt das bitte! Und die Bedrohung kommt von überall. Zum Beispiel vom Warschauer Pakt. Wenn der Russe kommt und mir einen Streich gibt auf meinen rechten Backen – so hattest du das ja gerade eben vorgelesen, Sven Philipp –, dann biete ich ihm den anderen auch dar?“
„Richtig, Eduard“, Manuela übernahm, „Ich will aber erstens gar keinen Streich auf meinen rechten Backen bekommen ...“
„... und dann schon gleich gar nicht noch einen freiwillig eingehandelten zweiten Streich auf meinen linken Backen.“
„Genau, Benno. Mit dem Ergebnis, dass ich nicht nur zwei Streiche bekommen habe ...“
„Richtig, Manuela, sondern das Ende vom Lied wird sein, dass ich nach diesen zwei Streichen – wie heißt es so schön? – vereinnahmt würde von den Streichausteilern. Also Teil des Ostblocks würde.“
„Und dann wäre Schluss mit Christentum und Humanismus und Abendland. Ich dürfte der Staatsreligion folgen. Oder ich bekäme Probleme.“
Hannes kam in Rage.
„Hier bei uns kann ich – rein freiwillig – Christ sein oder Atheist sein oder oder oder. Dort hätte ich diese Freiheit nicht mehr. Ich glaube, ich bin gar nicht ein so überzeugter Christ, vielleicht mehr so eine Art Mitläufer. Oder ein noch nicht endgültig Entschiedener. Oder so ähnlich. Ich reklamiere aber für mich, dass ich freiwillig und aus eigenen Stücken Christ sein will. Oder eben nicht ...!“
Hannes wurde laut.
„Aber ich will mir, was ich denken und glauben soll, nicht verordnen lassen, verdammt noch mal! Matthäus hin oder her.“
Er stand jetzt auf. Zu viel Energie, die irgendwohin musste. So schien es.
„Also finde ich die Fragestellung, ob wir christliche Parteien haben oder nicht, oder ob unsere Parteien nach Matthäus verfahren oder nicht, völlig daneben. Trifft nicht das, um das es geht. Wenn ich mir die politische Weltlage – hoher Begriff, ich weiß –, wenn ich mir also die Weltlage so ansehe, dann muss ich doch feststellen, dass Politik sich an dieser Lage ausrichten muss. In Geschi haben wir das
pragmatisches
Handeln genannt. Ich muss doch vorbereitet sein. Oder wie seht ihr das?“
Er schaute in die Runde und setzte sich wieder hin.
Sven Philipp reagierte – nach einer Pause, Hannes hatte die Dinge wohl irgendwie so zugespitzt, dass sie alle ins Nachdenken kamen –, er meinte:
„Also soll ich mir erstens gar keine Gedanken, die über das Pragmatische hinausgehen, machen?“
Er schaute sie alle an.
„Und soll ich zweitens auch auf gar keinen Fall davon ausgehen, dass der Friede oberste Idee und Maßstab aller Politik zu sein habe? Sondern bei allen politischen Überlegungen gleich vom Krieg als dem Gegebenen ausgehen? Der Krieg als Maßstab für alles. Also Rüstung. Also Altes Testament. Also Vergeltung. Also Vietnamkrieg. Also Verteufelung des Sozialismus. Nebenbei: Auch im Ostblock leben Menschen. Auch in Nord-Vietnam leben Menschen. Aber weiter im Text.“ Er griff sich seine vor ihm auf dem Tisch liegende Tabaktasche und die Blättchen. „Dieser Schritt macht die Sache mit Matthäus jetzt etwas komplizierter, mindestens im Hinblick auf unsere Nächsten- oder auch Feindesliebe zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Schah.“ Er bastelte weiter an seiner Zigarette. „
Keine
Verteufelung des Schah, weil sozusagen irgendwie unser Freund? Schöner Freund! Denn die andere Seite dieser Medaille sieht so aus: Auch in Persien leben Menschen. Die vom Schah unterdrückt, gefoltert, ermordet werden. Der Schah betreibt KZs. Aber – bitte schön – keine Anti-Schah-Demonstration, weil ja – wie eben schon bemerkt – Partner und Freund. Und – nicht zu vergessen – Öllieferant. Und wenn doch Demonstration – so wie am 2. Juni in West-Berlin –, dann aber fix die Polizei alarmiert. Na ja, und wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. In diesem Fall haben die Späne einen Namen: Benno Ohnesorg.“
Während er redete, drehte er ganz ruhig und konzentriert die Zigarette, die jetzt auf das Anzünden wartete.
„Ihr habt Recht. Ich möchte auch in einer Demokratie leben. Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Aber wenn ich – und das sogar freiwillig! – auf Möglichkeiten verzichte, nämlich in unzählige verschiedene Richtungen zu denken, die Welt zu entdecken, alle Möglichkeiten auszuloten, zu diskutieren – so wie jetzt –, zu glauben oder nicht zu glauben, Matthäus zu lesen oder ihn nicht zu lesen, Fragen zu stellen, Politikern Fragen zu stellen ... na ja, undsoweiterundsoweiter. Ich muss, glaube ich, gar nicht fortfahren. Ihr seid alle intelligent. Wenn ich also darauf verzichte, was bleibt denn dann noch übrig von dem, was das Leben ausmacht?“
Nachdem er sein Feuerzeug nicht fand, bat er Manuela, ihm Feuer zu geben.
„Das, ihr Lieben, meinte ich vorhin mit radikal. Ich denke, wir alle, wenigstens wenn wir aufgeklärt sind und politisch bewusst im Leben stehen – und das können wir wohl alle für uns reklamieren, in unserer Altersgruppe bestimmt, traurig wär’s, wenn’s anders wäre – also wenn wir uns als bewusst handelnde Menschen sehen, dann erwarte ich, dass wir radikal sind. Das heißt ja nichts anderes, als dass man Fragen stellt, die an die Wurzeln der Dinge gehen. Und da muss es dann natürlich möglich sein, Parteien oder Politiker nach ihrem Selbstverständnis zu befragen. Die müssen Rede und Antwort stehen. Also auch zum Beispiel in Bezug auf Matthäus 5.“
Und da ihn noch immer niemand unterbrach:
„Neben Pragmatismus – der gewiss vonnöten ist in der Politik, ich bin ja nicht weltfremd –, muss es doch so etwas wie
leitende Ideen
geben. Die den Pragmatismus steuern, ihn in Frage stellen, Änderungen anregen. Wiederum undsoweiterundsoweiter. Na ja, um zum Ende zu kommen, finde ich es dann auch mal angeraten, mir Menschen im Hinblick auf deren Friedfertigkeit anzusehen. Friedfertigkeit mit oder auch ohne Matthäus. Erreichen kann ich den Frieden doch nur, wen ich ihn auch als Idee habe. Ich muss doch eine Vorstellung haben von dem, was ich will.“ Er nahm noch einen Zug. „Auch wenn ich zugeben muss – um damit dann zum Ausgangspunkt zurückzukommen –, dass Feindesliebe im Zusammenhang mit dem Schah oder Kurras oder Westmoreland oder Johnson schon eine Herausforderung darstellt. Da müssen wir Matthäus vielleicht noch einmal genauer befragen.“ Er hielt kurz inne. „Vielleicht sogar fortschreiben
?“
Julia hing an seinen Lippen.
Hannes dachte offensichtlich nach.
Manuela grinste, und es war mal wieder nicht auszumachen, was sie gerade wirklich dachte oder was sie von Sven Philipps Ansichten hielt. Aber sie äußerte sich auch nicht mehr. Vielleicht war ja inzwischen alles gesagt.
War alles gesagt?
Auf jeden Fall konnte man festhalten, dass Sven Philipp zu allem und jedem etwas einfiel. Meistens sogar mit Hand und Fuß. Zugegeben. Aber redete er nicht doch ein bisschen viel? Und er gefiel sich in dieser Rolle, so schien es.
Eduard stand auf und meinte, dass er allen bedenkenswerten Ansichten Sven Philipps zum Trotz in jedem Fall von einer Politik der Stärke ausgehen wolle. Und genau daran würde er die Parteien messen, wenn er denn wählen dürfte. Da könne ihm dann kein Matthäus und auch sonst niemand weiterhelfen.
Sven Philipp, der die ganze Zeit sehr ruhig argumentiert hatte und nicht zu erkennen gab, ob er erregt war, rief dem Eduard hinterher: „Eduard, bedenke bitte eines ganz genau: Fighting for peace is like fucking for virginity.“
Sven Philipp grinste ihn ganz entspannt an, wie wenn ihn das alles gar nichts anging. Obwohl: So ganz ruhig erschien er ihm auch wieder nicht. Mindestens seine Hände konnte er nicht ganz still halten.
Eduard zögerte, blieb aber doch nicht stehen. Sagte nichts mehr und verließ den Raum. Im Gehen lächelte er Manuela zu. Die zurücklachte?
Hatte
er
eigentlich eine Haltung zu all den Dingen, die da eben auf den Tisch gekommen waren?